Sanktionen, Wirtschaftskriege, Konsequenzen und Gegenwehr

Mein etwas überarbeiteter Workshop-Beitrag auf dem Friedensratschlag am 9.12.2023 in Kassel.
(hier als PDF-Dokument)
Er erschien auch leicht überarbeitet und nur einer der Grafiken am 13.1 auf Telepolis: „Wirtschaftssanktionen: Ein fragwürdiges Mittel, das Leben kostet

  • Gegen ein Drittel der Menschheit
    • Nordkorea, Kuba, Iran und Syrien
    • Besonders effektiv: Finanzblockaden
  • Tödliche Folgen
  • Moderne Kriegsführung
  • Auseinandersetzung in UNO und Menschenrechtsrat
    • Gegen Erpressung – für souveräne Gleichheit
    • Westliche Rechtfertigungen
  • Iran: wachsende Kooperationen mit dem Osten
  • Syrien überwindet Isolation
  • Westen beim Russland-Boykott isoliert
  • Bumerangeffekte
  • De-Dollarisierung, SWIFT-Alternativen
  • Neue Blockbildung und Festigung einer multipolaren Welt

Es gab letztes Jahr bereits einen Workshop zu Wirtschaftssanktionen. Da lag der Schwerpunkt auf einer generellen Kritik an ihnen, aus humanitären, politischen und völkerrechtlichen Gründen. Es ging vor allem darum, zu zeigen, dass sie alles andere als eine „zivile Alternative“ zu Krieg sind, weder gegen Länder wie Syrien noch gegen Russland.[1]

Im Zentrum standen daher die gravierenden Folgen für die Menschen in den betroffenen, meist ohnehin armen Ländern. Dargelegt wurden aber auch die Bumerangeffekte auf Deutschland und die übrige EU, insbesondere der Embargomaßnahmen gegen Russland, und die Belege dafür, dass sie gescheitert sind. Während Russland sie offensichtlich verhältnismäßig gut verkraftet, belasten sie die Wirtschaft in der EU und vor allem Deutschlands schwer und die Bevölkerung muss die Kosten tragen.[2] Das steht nun mittlerweile kaum noch in Zweifel.

Thema heute soll die Auseinandersetzung um die westliche Sanktionspolitik als Teil des Kampfes der Mehrheit des Planeten gegen die westliche Vorherrschaft sein. Sie wird schon seit Jahrzehnten geführt, zwischen dem politischen Westen und dem Großteil der übrigen Welt. Mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland bekam sie aber eine neue Dynamik. Die praktischen Maßnahmen, die nun zunehmend im globalen Süden gegen Wirtschaftsblockaden ergriffen werden, richten sich auch gegen die westliche Dominanz generell und beschleunigen so die Umbrüche in eine multipolare Welt.

Gegen ein Drittel der Menschheit

Es gibt bekanntlich eine breite Palette von Repressalien, die gegen Individuen, Unternehmen, Organisationen oder ganze Staaten verhängt werden können und die unterschiedlichen Bereiche, wie Wirtschaft, Finanzen, Militär und Diplomatie treffen können, aber auch Sport und Kultur. Sie können gezielt und z.B. eng auf einige wirtschaftliche Aktivitäten begrenzt sein oder umfassend alle Tätigkeiten von Firmen, Organisationen bis hin zur gesamten Wirtschaft eines Landes treffen.

Anzahl aktiver Sanktionspakete der USA, der EU und dem UN-Sicherheitsrat bis 2019
aus: Florian Warweg, Abschaffung von Sanktionen als Mittel des Wirtschaftskrieges, NachDenkSeiten, 13.4.2023

Bei den internationalen Auseinandersetzungen geht es in erster Linie um Wirtschaftssanktionen, die von einem oder mehreren Staaten eigenmächtig gegen einen anderen verhängt werden, ohne selbst von diesem angegriffen oder auf andere Weise direkt geschädigt worden zu sein. Dazu ist grundsätzlich nur der UN-Sicherheitsrat legitimiert, zumindest wird nur seine Autorität dazu allgemein anerkannt. Da einzelne Staaten nicht berechtigt sind, sich zum Richter aufzuspielen und gegen andere Strafen zu verhängen ist der Begriff „Sanktionen“ in diesen Fällen irreführend. In der UNO werden sie daher als „unilaterale Zwangsmaßnahmen“ bezeichnet. Etwas anderes ist es, wenn ein Staatenbund wie der Afrikanischen Union oder die EU Sanktionen gegen eigene Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Statuten verhängen.

Eine extreme Form von Zwangsmaßnahmen sind die von den USA verhängten „Sekundärsanktionen“, durch die Personen und Unternehmen von Drittstaaten weltweit gezwungen werden, US-Embargovorschriften einzuhalten, auch wenn die Politik und Vorschriften ihrer eigenen Staaten zuwiderlaufen. Sie werden nahezu einhellig abgelehnt, auch von der EU.

Selbstverständlich sind auch sonstige eigenmächtige Restriktionen einzelner Staaten gegen natürliche oder juristische Personen anderer Staaten rechtlich und politisch äußerst fragwürdig, bei denen sich die Exekutive der verhängenden Staaten sich gleichzeitig als Ankläger, Richter und Vollstrecker aufspielt. So ist es mit gängigem Recht schwer vereinbar, wenn Unternehmen oder Personen, nur aufgrund einer unterstellten Nähe zur Regierung des gegnerischen Landes Konten gesperrt oder Vermögen beschlagnahmt wird. Das gilt auch für die berühmten Jachten von Oligarchen, unabhängig davon, wie wenig Sympathien wir für sie hegen.

Aktuelle Sanktionsziele der EU, des Vereinigten Königreichs
Sanktionsziele der EU, Großbritanniens und der USA
Grafik aus: Philippe M. Reich, Umgang mit ausländischen Sanktionen, Baker & McKenzie, 10.11.2021,
aktualisiert, Stand 30.11.2023

Die Legitimität eigenmächtiger Embargomaßnahmen wird international schon allein deshalb in Frage gestellt, weil sie nur von wirtschaftlich dominierenden Mächten oder Bündnissen wirksam verhängt werden können und von ihnen auch sehr selektiv gegen Gegner und Konkurrenten eingesetzt werden. Gleichzeitig können solche Mächte sicher sein, nie selbst Ziel solcher Maßnahmen zu werden, auch nicht im Falle völkerrechtswidriger Kriege, wie die der NATO-Staaten gegen Jugoslawien oder den Irak. Daher fördern sie keineswegs die „Stärke des Rechts“, wie u. a. führende Grüne hierzulande gerne ins Feld führen, sondern setzen nur das „Recht des Stärkeren“ durch. Selbst in Fällen, in denen die vorgebrachten Gründe berechtigt erscheinen, bleiben sie im Grunde Akte der Willkür ‒ Maßnahmen aus dem „Arsenal des Faustrechts“, wie sie der Präsident der „International Progress Organization“ (I.P.O.) in Wien, Hans Köchler charakterisiert.[3]

Sie werden von reichen, hochentwickelten Staaten gegen wirtschaftlich weniger entwickelte Länder im Afrika, Asien und Lateinamerika eingesetzt. Diese Asymmetrie weisen auch die Sanktionen des UN-Sicherheitsrates auf, da die großen Mächte und ihre Verbündeten vor ihnen geschützt sind. Der Anwendung von Wirtschaftssanktionen nahm in den letzten sechs Jahrzehnten erheblich zu. Waren Anfang der 1960er Jahren weniger als 4 Prozent der Länder mit Restriktionen der USA, westeuropäischer Staaten und der Vereinten Nationen konfrontiert, ist dieser Anteil auf 27 Prozent angestiegen, d.h. auf mehr als ein Viertel aller Länder.[4]

Von US-Zwangsmaßnahmen betroffene Länder
Quelle:
JojotoRudess, CC BY-SA 4.0, aktualisiert nach Sanctions Programs and Country Information, Office of Foreign Assets Control (OFAC) und Sara Flounders (Hg) Sanctions: A Wrecking Ball of the Global Economy, SanctionsKill Campaign, Jan. 2023

Überwiegend sind sie ein Instrument der Außenpolitik der USA und ihren Verbündeten Allein die USA haben ‒ teils gemeinsam mit der EU ‒ gegen rund 40 Länder eigenmächtige und teils äußerst umfassende Restriktion in Kraft. Bezogen auf die Bevölkerungszahl richten sie sich faktisch gegen ein Drittel der Menschheit.[5] Sie richten sie ‒ von der Öffentlichkeit kaum beachtet ‒ überwiegend gegen bereits völlig verarmte Länder wie Nicaragua, Mali, Simbabwe oder Laos. Besonders umfassend sind die Blockaden gegen Nordkorea, Kuba, Iran und Syrien. Sie sind auch die langjährigsten.

Nordkorea, Kuba, Iran und Syrien

Gegen die Demokratischen Volksrepublik Korea laufen sie seit dem Beginn des Koreakriegs 1950. Während die Waffen seit 70 Jahren schweigen, wurde der Wirtschaftskrieg in wechselnder Intensität fortgeführt ‒ Entspannungsphasen folgten stets neue Verschärfungen. Ab 2006, nach dem ersten Atomwaffentest Nordkoreas kamen noch Sanktionen des UN-Sicherheitsrates hinzu. Obwohl nach Pjöngjangs Kündigung des Atomwaffensperrvertrages eine rechtliche Grundlage fehlt, wurden sie mit dem Fortschreiten seines Aufrüstungsprogramms immer weiter verschärft und richten sich auch gegen die Entwicklung ballistischer Raketen allgemein.

Kuba ist seit 1960 mit strengen Handels- und Finanzblockaden konfrontiert, als direkte Fortsetzung der militärischen und geheimdienstlichen Operationen, die Washington ab Ende 1959, nach dem Sturz des Diktators Fulgencio Batista, gegen die revolutionäre Regierung eingeleitet hatte und die in der Invasion in der Schweinebucht gipfelten. Da Kuba bis dahin fast vollständig von den USA abhängig waren, wirkte die Blockade besonders brutal.

Das Ziel war, wie auch vom stellvertretenden US-Außenministers Lester Mallory im April 1960 offen verkündet wurde, „das Wirtschaftsleben Kubas zu schwächen […] um Hunger, Verzweiflung und den Sturz der Regierung herbeizuführen“.[6] Da die Kubaner widerstanden, weiteten die USA die Blockade immer weiter aus und begannen auch Drittstaaten zu zwingen, sich daran zu beteiligen. Präsident Trump setzte mitten in der Covid-19-Epidemie weitere Verschärfungen in Kraft, die gravierende Engpässe verursachen.

Gegen den Iran haben die USA ab 1979, nach dem Sturz ihres wichtigsten Verbündeten in der Region, Schah Reza Pahlavi Wirtschafts-, Handels- und Finanzrestriktionen verhängt und stetig erweitert. Seit demselben turbulenten Jahr, in dem der Supermacht mit dem persischen Schah-Regime der wichtigste Stützpfeiler im Nahen Osten weggebrochen war, ist auch Syrien mit US-amerikanischen Zwangsmaßnahmen konfrontiert. Washington setze das Land, wegen seiner Unterstützung palästinensischer und anderer antiimperialistischen Organisationen auf seine Liste „staatlicher Terrorismusförderer“.

Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen verursachen in allen Ländern erhebliche wirtschaftliche Schäden, hemmen die wirtschaftliche Entwicklung und die Steigerung des Lebensstandards. Die kubanische Regierung schätzt den Schaden von 60 Jahren US-Blockade auf über 144 Milliarden US-Dollar. [7]

Besonders effektiv: Finanzblockaden

Neben klassischen Embargomaßnahmen, wie Import- und Exportbeschränkungen von Gütern und Dienstleitungen setzen die USA zunehmend Finanzblockaden ein. Deren Spektrum reicht vom Verbot bestimmter Transaktionen über das Sperren von Konten und Einfrieren von Vermögen in den USA, bis hin zum vollständigen Ausschluss vom US-Finanzmarkt.

Sie nutzen die einzigartige Machtposition der USA im internationalen Finanzsystem aus. Diese wiederum stützt sich auf die Vorherrschaft des US-Dollars als globale Leit-, Reserve- und Transaktionswährung und die zentrale Rolle US-amerikanischer Finanzinstitute bei der Abwicklung von grenzüberschreitenden Finanztransaktionen. Sie sind heutzutage für die meisten Wirtschaftsbereiche eines Landes von essentieller Bedeutung, doch ihre Wege führen meist an irgendeiner Stelle über US-amerikanische Institute. Dadurch bieten sie den US-Behörden Eingriffsmöglichkeiten, die sie mit der dreisten Rechtsauffassung rechtfertigen, dass man sich schon bei der bloßen Durchleitung über US-Konten unter US-Hoheit begibt, auch wenn Sender und Empfänger in anderen Ländern sitzen und auch sonst kein Bezug zu den USA besteht.

Auf diese Weise kann Washington auch das internationale Finanzkommunikationsnetzwerk SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication), über die Finanztransaktionen zwischen Finanzinstitutionen verschiedener Länder vorwiegend abgewickelt werden, zwingen, die Institutionen gegnerischer Länder auszusperren.

Finanzblockaden sind dadurch besonders wirksam und flexibel und haben gegenüber Handelsembargen den enormen Vorteil, dass sie auch ohne internationale Unterstützung effektiv sind. Die Eingriffe in internationale Zahlungssysteme und die Beschlagnahmung von Konten, verstoßen allerdings eindeutig gegen internationale Abkommen und die Grundprinzipien des internationalen Rechts.

Tödliche Folgen

Von westlicher Seite wird stets beteuert, dass ihre Maßnahmen sich allein gegen die jeweilige Regierung, das jeweilige Regime, richten würden. Doch selbst wenn dies tatsächlich der Fall wäre, liegt es auf der Hand, dass sie, sobald sie effektiv sind, d.h. Handel und Wirtschaft wirksam einschränken, sie stets in erster Linie die Bevölkerung treffen, vor allem deren ärmere, verletzlicheren Teile, d.h. Kinder, ältere und kranken Menschen etc.. Das Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR) hat 30 Studien über Auswirkungen von Wirtschaftssanktionen auf den Lebensstandard in den Zielländern ausgewertet. Sie stimmen darin überein, dass sie stets negative Folgen haben, die vom Einbruch des Pro-Kopf-Einkommens, über Zunahme extremer Armut und Ungleichheit bis zu höherer Sterblichkeit reichen. [8]

„Unilaterale Sanktionen schaden allen und sind besonders schädlich für die Menschenrechte von Frauen, Kindern und anderen schutzbedürftigen Gruppen innerhalb der Bevölkerung der von den Sanktionen betroffenen Länder“, fasste Alena Douhan, die Sonderberichterstatterin über die negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen, die Untersuchungsergebnisse ihres Teams im Dezember letzten Jahres zusammen. Der vom UN-Menschenrechtsrat ernannten Expertin zufolge, gehören zu den besonders gefährdeten Gruppen neben den oben genannten auch indigene Völker, Menschen mit Behinderungen, Flüchtlinge und Vertriebene.[9]

Da es sich bei betroffenen Staaten fast ausschließlich um Entwicklungsländer handelt, die ohnehin mit massiven finanziellen und entwicklungspolitischen Problemen zu kämpfen hatten, „schaden Wirtschaftssanktionen“, so Douhan, „dem langfristigen Wachstumspfad der Gesellschaften, gegen die sie gerichtet sind, erheblich.“

Der Westen spielt solche Kritik stets herunter und bestreitet Versorgungsmängel mit dem Hinweis, dass humanitäre Güter wie Nahrung und Medizin doch von ihren Blockaderegelungen ausgenommen seien. Tatsächlich behindern Handels- und Finanzblockaden zwangsläufig jeglichen stets den Import aller Güter und verteuern ihn. Gleichzeitig verlieren die Länder durch Wegfall ihrer Exporte auch die zum Einkauf nötigen Devisen.

In der Regel fallen auch immer sogenannte „Dual Use“-Güter unter die Blockadebestimmungen, also Güter, die zivil und militärisch genutzt werden können. Da es eine sehr große Bandbreite von Produkten gibt, die u. U. auch militärisch genutzt werden können, wird dadurch auch die Eigenproduktion von essentiellen Gütern stark beeinträchtigt ‒ von Maschinen und Ersatzteilen bis hin zu Pflanzendünger, Desinfektionsmitteln und Medikamenten. Heutige Gesellschaften beruhen auf einem komplexen Netz unentbehrlicher Infrastruktur. Wenn z. B. aus Mangel an Ersatzteilen Pumpen ausfallen, kann der Zusammenbruch des Abwassersystem ganze Stadtteile im Sumpf versinken und Cholera- und Typhus-Seuchen ausbreiten lassen. Erhalten Bauern nicht mehr genug Saatgut und Dünger, bricht auch noch die Selbstversorgung mit Lebensmitteln zusammen.

Wenn mehrere solche Faktoren zusammenwirken, entstehen schnell lebensbedrohliche Notlagen. Richtig mörderisch wird es, wenn die USA ihre Gegner durch vollständige Blockaden zu strangulieren sucht, indem sie Drittländer und ausländische Firmen durch Androhung von sogenannten „sekundären Sanktionen“ zwingen, sich den Embargomaßnahmen anzuschließen.

Direkt auf Restriktionen lassen sich Todesfälle nur selten zurückführen, dann z.B., wenn durch sie lebensrettende Medikamente oder medizinische Geräte fehlen. Aber selbstverständlich führt auch allgemeiner Mangel an Medikamenten, Lebensmittel, … zum vorzeitigen Tod von Menschen, vor allem von Kindern, Alten und Kranken. Generell geht eine Verschlechterung von Lebensverhältnissen stets mit dem Rückgang der Lebenserwartung einher und führt unweigerlich zu wachsender Zahl indirekten Todesopfern. Insbesondere steigen Kinder- und Müttersterblichkeit oft dramatisch an. Das Embargo gegen den Irak kostete dadurch, wie eine UNICEF-Studie ermittelte, von 1990 bis 1998 ungefähr 500.000 Kindern das Leben. Die Gesamtzahl der Opfer des Embargos, bis es 2003 mit dem zweiten US-geführten Krieg endete, wird auf weit über eine Million geschätzt. [10]

Lang andauernde Wirtschaftsblockaden können somit mehr Opfer fordern als militärische, auch dann, wenn sie nicht so brutal sind wie das damalige Irakembargo. So forderten die US- und EU-Sanktionen gegen Venezuela nach Berechnungen von Mark Weisbrot und Jeffrey Sachs in einer Studie für das Washingtoner Centre for Economic and Policy Research (CEPR) bereits zwischen 2017 und 2018 schätzungsweise 40.000 Menschenleben.[11]

Auch in Syrien wirken die Wirtschaftsblockaden der USA und der EU, wie der damalige UN-Sonderberichterstatter, Idriss Jazairy bereits im Mai 2019 berichtete, schon lange verheerender als der Krieg. Ihre Opfer würden nun nur „einen stillen Tod“ sterben.[12] Seine Nachfolgerin, Alena Douhan hat nach ihre Syrienreise im November letzten Jahres erneut eindringlich die Aufhebung gefordert. Sie hätten eine vernichtende Wirkung auf die syrische Zivilbevölkerung und verhinderten nach elf Jahren Krieg den Wiederaufbau des Landes und damit auch die Rückkehr von Millionen Flüchtlingen. Tausende von diese stranden stattdessen monatlich beim Versuch nach Europa zu kommen beispielsweise in Libyen oder ertrinken gar im Mittelmer.[13]

Noch katastrophaler wirken die Handels- und Finanzblockaden der USA und der EU gegen Afghanistan, die mit der Machtübernahme der Taliban nach 20 Jahren Krieg gegen das gesamte Land in Kraft traten. Zuvor waren drei Viertel der öffentlichen Ausgaben vom Westen finanziert worden. Diese Zahlungen versiegten nicht nur über Nacht, die NATO-Staaten beschlagnahmten zudem auch noch die Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von über 9 Milliarden US-Dollar und schnitten das Land vom globalen Finanzsystem ab.

Die Leiterin des Welternährungsprogramm (WFP) der UNO in Afghanistan berichtete, sie „habe noch nie eine Krise erlebt, die so schnell und in einem solchen Ausmaß eskaliert ist, wie die in Afghanistan“. WFP-Chef David Beasley beschrieb die Lage als „Hölle auf Erden“.
Der transatlantische Thinktank International Crisis Group befürchtet, dass „Hunger und Elend“ nun „mehr Afghanen töten als alle Bomben und Kugeln der letzten zwei Jahrzehnten“.[14]

Hier zeigt sich besonders deutlich der Irrwitz der westlichen Sanktionspolitik. Zweifelsohne verstößt die Politik der Taliban eklatant gegen Menschrechte, insbesondere die der Frauen. Doch leidet die gesamte Bevölkerung unter dem Zusammenbruch der Versorgung, und ganz besonders Frauen und Kinder. Und Handels- und Finanzblockaden sind offensichtlich auch nicht geeignet, eine Änderung der Politik des Gegners zu erzwingen ‒ im Gegenteil führt das konfrontative Vorgehen i.d.R., wie Studien zeigen, zu einer Verhärtung der Haltung der angegriffenen Regierung und zu einem Verlust an Einflussmöglichkeiten von außen. Wenn die NATO-Staaten die Menschen durch ihr Embargo hungern, frieren und sterben lassen, deren Menschenrechte sie angeblich verteidigen wollen, so sind ihre humanitären Ziele offensichtlich vorgeschoben. Tatsächlich führen sie in Afghanistan damit nur den militärisch verlorenen Krieg mit anderen Mitteln fort ‒ brutal und rücksichtslos.

Moderne Kriegsführung

Dass bei Wirtschaftsblockaden auch Todesopfer bewusst in Kauf genommen werden, belegt die berühmt-berüchtigte Antwort der damaligen UN-Botschafterin und späteren Außenministerin der USA, Madeleine Albright 1996, auf die Frage der investigativen Journalistin Leslie Stahl ob die halbe Million Kinder, die Studien zufolge durch das Irakembargo starben, „den Preis wert waren“ ‒ den Preis für das offizielle Ziel, sicherzustellen, dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen mehr hat. Albright zweifelte die Zahl nicht an und antwortete „Ich glaube, das ist eine sehr schwere Entscheidung, aber der Preis – wir glauben, es ist den Preis wert.“[15] Sie versuchte sich später herauszureden, indem sie faktenwidrig Saddam Hussein für die enorme Zahl von Opfer des Embargos verantwortlich machte, deren tatsächliche Ziele die Verhinderung des erneuten Erstarkens der unbotmäßige einstige Regionalmacht und ‒ wie im „Iraq Liberation Act“ von 1998 explizit ausgeführt ‒ der Sturz Saddam Hussein waren.[16]

Ihre Antwort offenbart keineswegs nur die besondere Skrupellosigkeit einer einzelnen US-Politikerin. So wurde sie dessen ungeachtet auf grünen Parteitagen gefeiert und von Annalena Baerbock zu ihrem Vorbild erklärt.

Tatsächlich sind schädliche Auswirkungen auf die Bevölkerung der angegriffenen Länder generell kein bedauerlicher Kollateralschaden, sondern gehören – entgegen allen Beteuerungen – zum Kalkül. Schließlich soll die Verschlechterung der Lebensbedingungen zu öffentlichem Druck auf die Regierung führen, den Forderungen der blockierenden Mächte nachzugeben, oder wie z.B. im Fall von Kuba, Syrien und Iran die Menschen zum Aufstand nötigen. Alle Bürger der betroffenen Länder werden so als Geiseln genommen.

Der einstige Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates für Lateinamerika, Alfred De Zayas, brachte die grundsätzliche Problematik der vom Westen betriebenen Sanktionspolitik sehr gut auf den Punkt: Grundsätzlich seien Wirtschaftssanktionen vergleichbar mit „mittelalterlichen Belagerungen von Städten“, die zur Kapitulation gezwungen werden sollten. „Die Sanktionen des 21. Jahrhunderts versuchen aber nicht nur eine Stadt, sondern souveräne Länder in die Knie zu zwingen.“ Im Unterschied zum Mittelalter, würden die Blockaden des 21. Jahrhunderts „von der Manipulation der öffentlichen Meinung durch ‚Fake News‘, einer aggressiven PR-Arbeit sowie einer Pseudo-Menschenrechtsrhetorik begleitet werden, um den Eindruck zu erwecken, dass das ‚Ziel‘ der Menschenrechte kriminelle Mittel rechtfertigt.[17]

Es ist letztlich eine Form moderner Kriegsführung und mittlerweile auch die am häufigsten angewandte. Da sie unblutig daherkommt, ist es leichter, dafür öffentliche Unterstützung zu bekommen oder, wenn nicht, sie auch so ‒ ohne größere Aufmerksamkeit zu wecken ‒ weitgehend unangefochten einzusetzen.

Die breit gefächerten Angriffe auf gegnerische Länder werden im Westen mittlerweile flankiert von einer Ideologie, die die westlichen „Werte “ und Regeln als Maß für jede Gesellschaft setzt und die die Staaten der Welt in Gut und Böse einteilt. Statt Völkerrecht soll nun eine „regelbasierte Ordnung“ gelten ‒ mit selbst festgelegten Regeln und durchgesetzt durch ein immer ausgedehnteres Sanktionssystem.[18]

Ihre Ziele haben Wirtschaftsblockaden jedoch selten erreicht ‒ sieht man vom generellen Bestreben ab, gegnerische Länder zu schwächen und in ihrer Entwicklung zu hemmen, sowie andere Regierungen vor Unbotmäßigkeiten abzuschrecken. Eine grundlegende Änderung der Politik der angegriffenen Länder konnte jedoch selten durchgesetzt werden.

Stattdessen wurde die Position der herrschenden Eliten i.d.R. eher gefestigt als geschwächt. Da die Zwangsmaßnahmen als Angriff von außen angesehen werden, rückt die Mehrheit der Bevölkerung enger mit der politischen Führung des Landes zusammen, es kommt zu dem in Krisen typischen „Rally-’round-the-Flag-Effekt,“ dem „Scharen um die Flagge“. Gleichzeitig erhöht sich dadurch auch in Länder wie dem Iran der Druck auf oppositionelle Kräfte, die leicht der Subversion und Unterstützung des Feindes beschuldigt werden können. D.h. statt durch Sanktionen eine Demokratisierung zu erzwingen, wie es offiziell oft angestrebt wird, beschränken sie im Gegenteil die Möglichkeiten fortschrittlicher Kräfte, demokratische oder soziale Verbesserungen durchzusetzen, drastisch.

Auseinandersetzung in UNO und Menschenrechtsrat

Die von den USA und der EU betriebenen Wirtschaftsblockaden werden international seit langem scharf kritisiert, insbesondere wegen ihrer teils verheerenden humanitären Auswirkungen. Die Auseinandersetzung darüber wird vor allem auch seit Jahrzehnten im Rahmen der UNO und UN-Organisationen geführt. Davon drang aber kaum etwas in die westliche Öffentlichkeit. Erst in diesem Jahr erhielt eine Resolution des Menschenrechtsrats etwas breitere Aufmerksamkeit, die eigenmächtige Zwangsmaßnahmen als Verstoß gegen Völkerrecht, Menschenrechte und das Recht auf Entwicklung verurteilt. [19]

Sie ist jedoch keineswegs ein Novum. Seit der Gründung des Rates 2007 wird von der Bewegung der Blockfreien Staaten jedes Jahr eine solche Resolution gegen „die negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Wahrung der Menschenrechte“ eingebracht und mit wachsender Mehrheit verabschiedet.

In diese Resolutionen wird stets betont, dass nach den internationalen Pakten über „bürgerliche und politische Rechte“ und „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ ein Volk auf keinen Fall seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden darf. Sie wenden sich gegen die „schädlichen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf das Recht auf Leben, das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit und medizinischer Versorgung“ wie auch auf das Recht auf Freiheit von Hunger, auf einen angemessenen Lebensstandard und das Recht auf Entwicklung.“ Schließlich verurteilen sie auch scharf, dass sie sogar die humanitäre Hilfe in Ländern, die von Natur- und anderen Katastrophen betroffen sind, behindern, indem sie u.a. Finanztransfers an die dort tätigen humanitären Organisationen blockieren

Dieses Jahr stimmten 33 Mitgliedsstaaten für deren Ächtung, darunter auch Argentinien, Indien, Marokko, Pakistan und Südafrika. Die 13 Gegenstimmen kamen von den USA, den im Rat vertretenen EU-Staaten, Georgien und der Ukraine.

Die Mehrheitsverhältnisse in der UN-Generalversammlung sind ähnlich. Hier werden schon länger regelmäßig zwei Resolutionen gegen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen verabschiedet, die inhaltlich dem des Menschenrechtsrats sehr ähneln. Die erste wurde bereits im Dezember 1983 verabschiedet, gegen „wirtschaftliche Maßnahmen als Mittel des politischen und wirtschaftlichen Zwangs gegen Entwicklungsländer“. Sie verurteilte mit Verweis auf die UNO-Charta, diverse internationale Pakte und Abkommen die Praxis hochentwickelter westlicher Länder, ihre dominierende Stellung in der Weltwirtschaft auszunutzen, um Entwicklungsländern ihren Willen aufzuzwingen.

In Folgeresolutionen, die seit 1987 alle zwei Jahre von der „Gruppe der 77“ (G77) und China eingebracht werden, wurde zudem die internationale Gemeinschaft aufgefordert, dringend wirksame Maßnahmen gegen diese Praxis zu ergreifen.

Seit 1996 wird jedes Jahr eine weitere Resolution mit dem Titel „Menschenrechte und einseitige Zwangsmaßnahmen“ verabschiedet, die von der Bewegung der Blockfreien Staaten eingebracht wird und sich stärker auf die humanitären Folgen der westlichen Sanktionspraxis konzentrieren.

Gegen Erpressung ‒ für souveräne Gleichheit

Diese Resolutionen stützen sich alle auf den Grundsatz der Nichteinmischung, der in früheren Resolutionen der UN-Generalversammlung fixiert wurde und als zentraler Bestandteil des Selbstverständnisses der UNO und auch des internationalen Rechts gilt. Diesen zufolge darf kein Staat wirtschaftliche, politische oder sonstige Maßnahmen anwenden, um einen anderen Staat zur Unterordnung zu nötigen

Die Resolutionen gegen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen wurden in der Folge noch präzisiert und ausgeweitet.[20] Die letzte, am 15. Dezember 2022 von der Generalversammlung verabschiedete führt in ihrer auf mittlerweile 34 Punkte angewachsenen Liste eine breite Palette von Rechtsverstößen und schädlicher Auswirkungen auf. Betont wurden stets schon die negativen Folgen für Kinder und die medizinische Versorgung. Mittlerweile werden sie auch als „größtes Hindernis“ für die Verwirklichung des „Rechts auf Entwicklung und der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ verurteilt. Schließlich drängen sie die UN-Mitglieder zu wirksamen Gegenmaßnahmen und bekräftigen „das Engagement für die internationale Zusammenarbeit und den Multilateralismus“.

Die letzte verurteilt zudem auch „die Aufnahme von Mitgliedstaaten in einseitige Listen unter falschen Vorwänden […] einschließlich falscher Behauptungen über die Unterstützung des Terrorismus“. Dies ist bekanntlich ein von den USA häufig gebrauchter Vorwand. [21]

Sie wurde mit 123 Ja- gegen 53 Nein-Stimmen angenommen. Dem Nein der NATO- und EU-Staaten und ihren engen Verbündeten Australien, Israel, Japan, Neuseeland, Schweiz und Südkorea schlossen sich aus dem Süden nur Kleinstaaten wie Marshall Inseln, Mikronesien oder Palau an, die völlig vom Westen abhängig sind.[22]

Resolutionen der Generalversammlung sind bekanntlich völkerrechtlich nicht bindend, im Unterschied zu denen des Sicherheitsrats. Durch ihren starken appellatorischen Charakter haben sie aber durchaus erhebliches Gewicht und können in Völkergewohnheitsrecht übergehen. Nach Ansicht einer Reihe von Experten, wie dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter Idriss Jazairy, könnte dies angesichts der Vielzahl der seit vielen Jahren verabschiedeten Resolutionen der UN-Vollversammlung bzgl. Ächtung von unilateralen Zwangsmaßnahmen bereits der Fall sein. [23]

Westliche Rechtfertigungen

Dem wird im Westen natürlich vehement widersprochen. Westliche Völkerrechtler gehen sogar soweit, zu behaupten, dass im Gegenteil, die langjährige umfangreiche Anwendung eigenmächtiger Maßnahmen diese bereits gewohnheitsrechtlich legitimiere, während die von Sanktionsgegnern ins Feld geführte Normen, wie der Grundsatz der Nichteinmischung, bereits durch die Praxis vieler Staaten schon so erheblich ausgehöhlt seien, dass sie gewohnheitsrechtlich nicht mehr relevant wären. [24] Das würde bedeuten, dass dominierende Mächte Normen allein dadurch unwirksam machen könnten, dass sie sie häufig brechen

Die USA erkennen natürlich die Resolutionen gegen Zwangsmaßnahmen nicht an. Sie erklären sie schlicht für irrelevant, da sie das souveräne Recht der Staaten in Frage stellen würden, ihre Wirtschaftsbeziehungen frei zu gestalten und legitime nationale Interessen zu schützen.“ „Unilaterale Sanktionen“ seien ein „legitimes Mittel“, um „außenpolitische, sicherheitspolitische und andere nationale und internationale Ziele zu erreichen“.

Die EU-Staaten teilen weitgehend diesen Standpunkt. Auch sie beharren darauf, dass von einem völkerrechtswidrigen, unter das Interventionsverbot fallenden Zwang überhaupt keine Rede sein könne, da es schließlich jedem Land freistehe, zu entscheiden, mit wem es wie viel Handel treiben möchte.

Diese plumpe Argumentation halten jedoch auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages für nicht haltbar. Sie stellen klar, dass unilaterale Zwangsmaßnahmen als „extreme Formen der Druckausübung“ gelten und unter das Interventionsverbot fallen, sobald sie „die Schwelle der Erheblichkeit überschreiten“, indem sie vitale Staatsinteressen berühren und den sanktionierten Staat in der Ausübung seiner Souveränität spürbar behindern. [25] Das ist bei den westlichen Embargos, angesichts des enormen wirtschaftlichen Erpressungspotentials, über das die USA und die alten Kolonialmächte verfügen, sicher der Fall.

Um den Auswüchsen der westlichen Wirtschaftsblocken mehr entgegensetzen zu können hat der UN-Menschenrechtsrat 2014 das Amt eines „Sonderberichterstatters über negative Auswirkungen unilateraler Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung von Menschenrechten“ geschaffen. Der erste Berichterstatter, erwähnte algerische Menschenrechtler Idriss Jazairy und seine Nachfolgerin Alena Douhan legen seither regelmäßig ausführliche, gut recherchierte Berichte über die Auswirkungen vor, wie auch fundierte völkerrechtliche Bewertungen.

Die aktuelle Sonderberichterstatterin Alena Douhan geht davon aus, „dass etwa 98 Prozent der heute verhängten einseitigen Sanktionen gegen die internationalen Verpflichtungen der Staaten verstoßen.“[26] Obwohl sie „meist im Namen der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verhängt“ würden, würden sie, so betonte sie in einem Interview mit der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, „genau diese Grundsätze, Werte und Normen untergraben“.

Insbesondere die von den USA auf Grundlage willkürlicher Notstandserklärungen verhängten Maßnahmen, so die Völkerrechtsexpertin würden, „eine breite Palette von Menschenrechten in China, Kuba, Haiti, Iran, Nicaragua, der Russischen Föderation, Syrien, Venezuela, Simbabwe und anderen Ländern auf der ganzen Welt“ verletzen.

Vor dem Hintergrund ist klar, dass viele Länder schon seit langem helfen, Wirtschaftsblockaden zu umgehen und dabei auch schon in den letzten Jahren zunehmend offensiver vorgingen. Mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland gab es in dieser Beziehung jedoch einen regelrechten Schub, der nicht nur Russland zugutekommt, sondern z.B. auch dem Iran.

Iran: wachsende Kooperationen mit dem Osten

Tatsächlich konnte der Iran seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in letzter Zeit stark ausbauen, zum einen durch engere Kooperation mit Russland, vor allem aber durch den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit asiatischen Staaten. China ist mittlerweile der mit Abstand größte Handelspartner und dessen oft als „neue Seidenstraße“ bezeichnete „Belt and Road Initiative“ spielt der Iran schon aufgrund seiner Lage eine zentrale Rolle. Zudem haben beide Staaten langfristiges Kooperationsabkommen geschlossen, das chinesische Investitionen im Wert von 400 Milliarden Dollar vorsieht – gegen Erdöl-Lieferungen zu Vorzugspreisen.

Neben China hat auch Indien begonnen, den Handel und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der islamischen Republik wieder auszuweiten, vor allem durch größere Öl-Importe, aber auch durch den Handel mit anderen Produkten.[27] Abgerechnet wird nun dabei nicht mehr in Dollar, sondern in Rupien. Südkorea will ebenfalls den Ölimport aus dem Iran wieder aufnehmen. Da auch andere Staaten vermehrt iranisches Öl kaufen haben sich die iranischen Rohölexporte seit dem Herbst letzten Jahres verdoppelt.[28]

Zudem baut der Iran in Kooperation mit Russland, Indien, China und seinen anderen Nachbarn große Transportkorridore über sein Territorium aus, zusätzlich zu denen in Ost-West-Richtung im Rahmen der Neue Seidenstraße auch quer dazu in Nord-Süd-Richtung. Sie sollen sukzessive attraktive Alternativen zu bisherigen Transportwegen, wie dem Suezkanal schaffen ‒ Alternativen, auf die der Westen keinen Einfluss hat. Der Iran integriert sich auf diese Weise immer stärker in die Region und wird zu einem zentralen Verkehrsknotenpunkt.

Diese Integration in Asien konnte Teheran schließlich mit der Vollmitgliedschaft in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) institutionalisieren, dem bedeutendsten sicherheits- und wirtschaftspolitischen Bündnis des Ostens. Und schließlich wird die iranische Position gegenüber dem Westen natürlich auch durch die Aufnahme in die Staatengemeinschaft BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) entscheidend gestärkt. Beide Bündnisse erkennen einseitige Zwangsmaßnahmen grundsätzlich nicht an.

Und von großer Bedeutung war natürlich die zuletzt von China zum Abschluss gebrachte Entspannung zwischen Riad und Teheran, die den Weg zu einer gleichzeitigen Mitgliedschaft der beiden Länder in der SCO und BRICS freigemacht hat.

Der Iran spielt so eine zunehmend gewichtigere Rolle im Umbruch in eine multipolare Welt, während die EU-Staaten und besonders Deutschland sich mit dem dauerhaften Verlust lukrativer Geschäfte im Iran abfinden müssen.

Die Irankennerin Charlotte Wiedemann fasste dies einmal so zusammen: „Wenn Iran seinen regionalen Kontrahenten heute als gefährlich stark erscheint, spiegelt sich darin der Niedergang der USA ebenso, wie die iranische Fähigkeit, sich westlicher Einflussnahme seit 1979 entzogen zu haben.[29]

Syrien überwindet Isolation

Im Zuge der Entspannung zwischen Iran und Saudi Arabien konnte auch Syrien sein Verhältnis mit den Staaten der Region entscheidend verbessern. Das verheerende Erdbeben Anfang Februar beschleunige die Entwicklung. Während EU und USA auch angesichts der Naturkatastrophe am Wirtschaftskrieg festhielten, leisteten die arabischen Golfstaaten, die bisher die islamistischen Milizen gegen Damaskus finanziert und ausgerüstet hatten umfangreiche finanzielle, materielle und personelle Hilfe. Es kam zu zahlreichen Treffen auf hoher Regierungsebene und im Mai zur Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga. Auch Saudi-Arabien stellte die 11 Jahre zuvor abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder vollständig her und Syrien ist bei regionalen und internationalen Treffen immer häufiger wieder dabei. Die vom Westen betriebene Isolation zerbröckelt. Der syrische Präsident Assad konnte bei einem Treffen mit seinem chinesischen Kollegen eine strategische Partnerschaft und zahlreiche Abkommen vereinbaren. Chinas Projekt der „Neuen Seidenstraße“ und der Beitritt des Irans zum BRICS-Bündnis, gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien, werden nun auch für Syrien die Handelsmöglichkeiten mit den Staaten der Region erweitern ‒ an den mit dem US-Dollar und Euro verbundenen Blockaden vorbei.

Doch wird eine Verbesserung der wirtschaftlichen und soziale Verhältnisse diese Entwicklung weiterhin massiv durch die Wirtschaftsblockaden der USA und der EU sowie die fortgesetzte Besetzung syrischer Gebiete ausgebremst ‒ im Norden durch die Türkei, im Nordosten durch die USA und in Idlib durch vom Westen geförderte dschihadistische Milizen.

Westen beim Russland-Boykott isoliert

Dass der Wirtschaftskrieg gegen Russland gründlich nach hinten losging, ist mittlerweile allgemein bekannt. Wirtschaftsblockaden gegen ein derart großes, ressourcenreiches und politisch bedeutendes Land, wie Russland zu verhängen, waren nüchtern betrachtet von vorneherein nicht aussichtsreich. Sie waren endgültig zum Scheitern verurteilt, als sich abzeichnete, dass die meisten Staaten dem Westen nicht nur aus wirtschaftlichem Interesse die Gefolgschaft verweigerten, sondern den Wirtschafkrieg auch politisch ablehnten. So blieben die NATO-Staaten in ihren Bemühungen ziemlich isoliert. Letztlich beteiligen sich nur fünf Staaten außerhalb der NATO und der EU mehr oder weniger aktiv: Australien, Japan, Neuseeland, Schweiz und Südkorea.

Die übrigen Staaten führen ihre Zusammenarbeit mit Russland nicht nur fort, sondern haben sie zum Teil sogar noch intensiviert. Nicht nur China kauft russisches Öl und Gas in Rekordmengen, sondern auch zahlreiche andere Länder ‒ natürlich begünstigt durch Rabatte von bis zu 30 Prozent, die Moskau gewährt. Auch Indien hat z B. seine Ölimporte aus Russland vervielfacht. Russland konnte im März 2023 so viel Erdöl ins Ausland exportieren wie seit drei Jahren nicht mehr. [30] Häufig werden Erdöl und Derivate, wie Diesel, zum Weiterkauf in andere Länder einfach umdeklariert. Etliche asiatische Länder, darunter auch die Türkei machen damit blendende Geschäfte. Selbst Saudi-Arabien hat den Import von Heizöl und Diesel für den Eigenverbrauch verzehnfacht und exportiert die so freigewordenen Kraftstoffe wesentlich teurer nach Europa.[31]

Aber auch die EU importiert, wie die Financial Times im August berichtete, russisches Gas in Rekordmengen, das meiste nun nicht mehr kostengünstig und umweltschonend über Pipelines, sondern mit Tankern als Flüssiggas. Belgien und Spanien kamen nach China auf den Plätzen zwei und drei.[32] Ebenfalls so viel wie noch nie fließt russisches Erdgas nach Südosteuropa, durch die Turk­Stream-Pipeline über das Schwarze Meer und die Türkei.[33]

Umgekehrt floriert auch der russische Import, indem unter Embargo stehende Waren über Nachbarländer importiert werden, wodurch die Liefermengen dorthin in dem Maße zunahmen, wie sie nach Russland sanken. [34] Zunehmend wurden westliche Güter auch durch asiatische ersetzt. Das schon zuvor beträchtliche russische Handelsvolumen mit China legte nach Berechnungen der New York Times bis Oktober 2022 bereits um 64 Prozent zu, das mit Brasilen verdoppelte sich und das mit Indien stieg auf mehr als das Vierfache. [35] Insgesamt vollzieht sich so seit letztem Jahr im Rekordtempo ein gravierender Umbruch im Welthandel.

Da parallel auch die Eigenproduktion angekurbelt wurde macht die russische Wirtschaft, wie der Wirtschaftsinformationsdienst Bloomberg bereits im August meldete, beeindruckende Fortschritte und sei bald wieder auf dem Vorkriegsniveau.[36] Insgesamt konnte Russland 2023 bei geringerem Handelsvolumen höhere monatliche Einnahmen erzielen als vor 2021.

Auch der IWF bescheinigt Russland eine recht stabile finanzielle Situation, mit einer niedrigen öffentlichen Verschuldung und hohen Leistungsbilanzüberschüssen. Mittelfristig erwartet er eine durch das Embargo gedämpfte Entwicklung, aber durchaus noch ein bescheidenes Wachstum. Seine Prognose für das russische Wirtschaftswachstum in diesem Jahr hat er nun auf 2,2 Prozent erhöht, während er die BRD mit minus 0,5% zum Schlusslicht unter den großen Volkswirtschaften erklärt und damit zum größten Verlierer des Wirtschaftskrieges.[37]

Bumerangeffekte

Wenn auch nicht so stark, wie das der größten Volkswirtschaft in der EU, brach auch das Wirtschaftswachstum der anderen Mitgliedsstaaten infolge ihrer Boykottbemühungen ein. Was sie für schweres Geschütz gegen die russische Wirtschaft hielten, feuert mit voller Wucht zurück und gefährdet ihre eigene wirtschaftliche Stabilität. Hauptursache ist der drastische Anstieg der Energiekosten, insbesondere in Deutschland, das sich bisher zu einem sehr hohen Anteil mit sehr günstigem russischem Erdgas über Pipelines versorgte. Darauf beruhte das Erfolgsrezept der sehr stark exportorientierten deutschen Wirtschaft.

Die hohen Energiepreise werden zwar als Grund für die die Wirtschaftskrise genannt. Politik und Medien bemühen sich aber krampfhaft die Hauptursache dafür, den Boykott von russischem Öl- und Gas auszublenden. Die Preissteigerungen werden schlicht auf den „russischen Angriffskrieg“ zurückgeführt. Dabei hat die Bundesregierung so rigoros wie kaum ein anderes Land den direkten Import aus Russland gedrosselt, lange bevor ihr die eigenen engen Verbündeten mit der Sprengung der Nordstream-Pipelines in ihren Boykottbemühungen tatkräftig unter die Arme griffen. Erklärtes Ziel war es das russische Gas schnellstmöglich durch Flüssiggas zu ersetzen, ohne Rücksicht auf die Kosten und die Umwelt wurden Flüssiggasterminals in Auftrag gegeben.[38]

Der Wirtschaftskrieg ist der „Elefant im Raum“, den selbst die Führungen der Linkspartei und der Gewerkschaften nicht thematisieren wollen, wohl um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, die antirussische Front zu schwächen. Doch das Angebot Moskaus steht, Gaslieferungen über die intakt gebliebene Röhre von Nordstream 2 zu liefern, der russische Präsident hat es erst kürzlich erneuert.

Nach Berechnungen der Nachrichtenagentur Bloomberg belief sich die Belastung der EU-Staaten durch die steigenden Energiekosten bereits im Dezember 2022 auf rund eine Billion US-Dollar. Der deutsche Staat gab 2022 zur Abfederung der Folgen des Boykotts von russischem Öl- und Gas 440 Milliarden Euro aus, konnte damit aber weder die Belastung der Bevölkerung, vor allem die ärmeren, ausgleichen noch den wirtschaftlichen Niedergang verhindern. [39]

De-Dollarisierung, SWIFT-Alternativen

Wenn immer häufiger Devisenreserven von Ländern, mit denen Washington im Clinch liegt, eingefroren und ihre Banken vom Zahlungsverkehr ausgeschlossen werden, kann sich natürlich kein Land mehr sicher davor fühlen. Der Widerstand gegen westliche und vor allem US-amerikanische Zwangsmaßnahmen und das Bemühen sich vor ihnen zu schützen, geht daher einher mit Streben nach mehr wirtschaftlicher und finanzieller Unabhängigkeit von den USA und den EU. Vor allem arbeiten nun viele Länder mit Nachdruck daran, sich vom Dollar und dem US-dominierten internationalen Finanzsystem, den zentralen Hebeln des US-Sanktionsregime, wirksam abzukoppeln – naheliegender Weise gemeinsam mit China und Russland.

So wird nicht nur zunehmend der Handel an den westlichen Blockaden vorbei getrieben, sondern seine Abrechnung gleichzeitig auch auf lokale Währungen umgestellt. Viele Länder bauen zudem eine Infrastruktur dafür auf, ihren Handel generell in anderen Währungen als Dollar und Euro abwickeln zu können.

Am weitesten ist dabei natürlich China, das mittlerweile schon rund 50 Prozent seines Außenhandels in seiner eigenen Währung abwickelt. [40] Deren Anteil bei weltweiten Geschäften hat sich seit dem russischen Einmarsch von weniger als 2 Prozent auf 4,5 Prozent im Februar dieses Jahres mehr als verdoppelt. Er liegt damit nicht mehr weit unter dem des Euro, der einen Anteil von 6 Prozent am Gesamtmarkt hat. [41]

Indien baut ebenfalls beschleunigt die eigene Landeswährung Rupie zu einer internationalen Handelswährung und Alternative zum US-Dollar auf. Auch die Gemeinschaft südostasiatischer Staaten („ASEAN“) hat beschlossen, ein „Lokalwährungs-Transaktions-System“ zu schaffen, dass es den zehn ASEAN-Ländern ermöglichen wird, die Handelsgeschäfte untereinander direkt in den eigenen Währungen abzuwickeln. Und in Lateinamerika werden die seit langem gehegten Pläne einer gemeinsamen Regionalwährung wiederbelebt. Vor allem der brasilianische Präsident Lula da Silva drängt seit seiner Wiederwahl darauf. [42]

Es wird zwar auch häufig über eine BRICS-Währung gesprochen, auf der Tagesordnung steht ein solch komplexes Unterfangen aber noch nicht. Das BRICS-Bündnis will jedoch über seine Neuen Entwicklungsbank (New Development Bank, NDB) den Aufbau eines entdollarisierten Handelssystems vorantreiben. Diese multilaterale Entwicklungsbank soll dem Globalen Süden als Alternative zu IWF und Weltbank dienen. Sie steht auch anderen Ländern offen und kann zukünftig auch denen helfen, die durch Finanzblockaden vom US-dominierten Finanzsystem ausgeschlossen sind.

Noch hat der US-Dollar mit Abstand den größten Anteil am Welthandel und an den Devisenreserven. Doch wird seine Dominanz zunehmend in Frage gestellt. Hatte der US-Dollar 1977 einen Anteil von 85 Prozent bei den Devisenreserven und 2001 noch von 73 Prozent, so betrug er letztes Jahr nur noch 58 Prozent und sank bis April diesen Jahres auf 47 Prozent.[43] D.h. die Umbrüche, die im letzten Jahr einsetzten, haben einen Einbruch um 11 Prozentpunkte verursacht. Noch stärker brach die Nutzung des Euro bei weltweiten Geschäften ein. Sein Anteil bei Swift-Transaktionen z.B. sank seit letztem Jahr von 38 auf 24 Prozent.[44]

Parallel dazu arbeiten vielen Staaten und Bündnisse auch an Alternativen zum US-kontrollierten Finanzsystem ‒ von Kreditkarten bis zum internationalen Finanzkommunikationsnetzwerk SWIFT. Russland hat bereits 2014 ein eigenes Transfersystem, SPFS (System for Transfer of Financial Messages), etabliert, sowie ein nationales Zahlungssystem, inklusive Kreditkarte namens Mir. Im Januar wurde es mit dem iranischen Finanzkommunikationssystem SEPAM zusammengeschlossen.[45]

Wesentlich leistungsfähiger ist Chinas „Grenzüberschreitendes Interbankenzahlungssystem“ (Cross-Border Interbank Payment System CIPS), das im Juni 2023 bereits über 1450 Teilnehmer aus 111 Ländern zählte, die darüber Geschäfte mit mehr als 4.200 Bankinstituten in 182 Ländern abwickelten. [46] Es ist kein rein chinesisches Projekt, zu den Mitbegründern gehören auch einige westliche Banken, wie die Citibank, die Deutsche Bank und HSBC. Daher war CIPS von Beginn an international breiter verankert. Von SWIFT, das von 11.000 Finanzinstituten in 200 Ländern genutzt wird, ist das chinesische System noch ein gutes Stück entfernt, kann aber durchaus schon als echte Alternative fungieren.

Auch die neun Mitgliedsländer der Asiatischen Clearing Union (ACU), zu denen u.a. Indien, Pakistan und der Iran zählen, planen ein eigenes grenzüberschreitendes Finanzkommunikationssystem aufzubauen. Bis dahin wollen sie das iranische SEPAM nutzen. [47]

Neue Blockbildung und Festigung einer multipolaren Welt

Das sind nur einige Beispiele für die zunehmend engere Kooperation der Länder im globalen Süden, für die die westlichen Wirtschaftskriege wie Katalysatoren wirken. Sie zwingen viele Länder zur Kooperation, da sie die reale Gefahr sehen, selbst direkt davon betroffen zu werden oder weil sie den Erpressungen durch „Sekundärsanktionen“ entgehen wollen, die ihre Souveränität einschränkt und ihnen wirtschaftlich schadet. Die Welt hat sich neu aufgeteilt. Während sich nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine der politischen Westen enger zusammenschloss ‒ gegen Russland aber zunehmend auch gegen China ‒, erstarkten im Süden Blöcke, die sich gegen dessen Dominanzstreben richten und in denen Russland und China eine zentrale Rolle spielen. Vor allem das BRICS-Bündnis bekam enorme Bedeutung und Anziehungskraft. Es hat sechs weitere Mitglieder aufgenommen und umfasst nun rund 46 Prozent der Weltbevölkerung und die größten Ölproduzenten der Welt neben den USA. Zahlreiche weitere Staaten haben eine Mitgliedschaft beantragt oder Interesse daran bekundet.

Selbstverständlich läuft die Entwicklung angesichts der gravierenden Unterschiede und diverse Rivalitäten zwischen den Ländern alles andere als reibungslos und gradlinig. Nach wie vor verfolgen alle in erster Linie nationale Interessen und auch wenn sich die meisten Länder an den Bemühungen für eine multipolare Ordnung beteiligen, sind viele weiterhin an guten Beziehungen zu den westlichen Staaten interessiert und so auch immer wieder zu Zugeständnissen bereit, die dieser Entwicklung entgegenstehen, wie auch die Groß- oder Regionalmachtambitionen großer aufstrebender Staaten, wie z.B. Indien. Zudem handelt es sich bei den Regierungen, die sich gegen die westliche, imperialistische Dominanz wenden, bekanntlich meist auch nicht um fortschrittliche Kräfte.

Aber offensichtlich verschieben sich die Gewichte ‒ politisch wie wirtschaftlich ‒ rasant und eröffnen Spielräume für positive Entwicklungen, noch verstärkt durch den allgemeinen Niedergang der ökonomischen Dominanz der USA und ihrer Verbündeten.

Die Zunahme wirtschaftlicher Alternativen für Außenhandel und ausländischen Investitionen bieten vielen Ländern des globalen Südens Wege, den neo-kolonialen Extraktivismus, d.h. die Beschränkung auf die Ausbeutung natürlicher Ressourcen zum Nutzen globaler Firmen, zu überwinden. Es ist ein Prozess der weiteren Entkolonisierung, der einhergeht mit einem neuen selbstbewussten Eintreten der Länder für ihre Souveränität, sichtbar z.B. in der Abkehr der Sahel-Staaten von der ehemaligen Kolonialmach Frankreich.

Unter den Regierungen, die sich gegen die westliche, imperialistische Dominanz wenden, sind bekanntlich auch viele, die ansonsten alles andere als fortschrittlich sind. Die Friedensinitiativen aus dem globalen Süden bzgl. der Kriege in der Ukraine und Palästina, die Verständigung zwischen Saudi-Arabien und Iran und andere Bemühungen Konflikte auf Verhandlungswege zu lösen, lassen auf ein gewisses friedenspolitisches Potenzial des Multilateralismus hoffen.


[1] Workshop: Wirtschaftsblockaden – eine „zivile Alternative“ zu Krieg?, 10.12.2022 in Kassel.

[2] s.a. J. Guilliard, Wer ruiniert wen? ‒ Der Wirtschaftskrieg gegen Russland und seine Folgen, junge Welt, 02.03.2023

[3] Hans Köchler, Sanktionen aus völkerrechtlicher Sicht, International Progress Organization, 2018

[4] Francisco R. Rodríguez, The Human Consequences of Economic Sanctions, Center for Economic and Policy Research (CEPR), 4.5.2023

[5] Sara Flounders (Hg) Sanctions: A Wrecking Ball of the Global Economy, SanctionsKill Campaign, Jan. 2023

[6] Helen Yaffe, The US Blockade Against Cuba Is an Act of War, Jacobin, 27.03.2022

[7] Helen Yaffe, .a.a.O.

[8] Francisco R. Rodríguez, The Human Consequences of Economic Sanctions, Center for Economic and Policy Research (CEPR), 4.5.2023

[9] Unilateral sanctions hurt all, especially women, children and other vulnerable groups – UN human rights expert  OHCHR, 8,12. 2021

[10] Schätzungen der Zahl der Embargo-Opfer basierend auf Angaben von UN-Organisationen reichen bis zu 1,7 Millionen (Nafeez Ahmed, Behind the War on Terror: Western Secret Strategy and the Struggle for Iraq, Clairview Books, Juni 2003).
Insgesamt können bis zu 880.000 Kinder unter 5 gestorben sein, s. Michael Holmes, Der vergessene Krieg gegen Iraks Zivilbevölkerung, WELT, 22.09.2010

[11] Mark Weisbrot u. Jeffrey Sachs, Economic Sanctions as Collective Punishment: The Case of Venezuela, CEPR, 25.4.2019

[12] J. Guilliard, Syrien: „Stiller Tod durch Sanktionen“, Ossietzky 13/2019)

[13] Sanktionen gegen Nothilfe ‒ Hilfsorganisationen fordern Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Syrien, weil sie die Erdbeben-Nothilfe blockieren, german-foreign-policy, 8.2,2023

[14] J. Guilliard, Hindukusch: “Hölle auf Erden” ‒ 2 Jahre nach Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan, junge Welt, 16.08.2023

[15] ‘We Think the Price Is Worth It’ ‒ Media uncurious about Iraq policy’s effects–there or here, FAIR, 1.1.2001

[16] Hans-C. von Sponeck, Ein anderer Krieg ‒ Das Sanktionsregime der UNO im Irak, Hamburger Edition, Hamburg 2005

[17] UN-Sonderberichterstatter: Die Sanktionen gegen Venezuela töten viele Menschen, RT, 30.01.2019

[18] s. u.a. Norman Paech, Verdeckte Kriege im Schatten des Völkerrechts, Das Argument 340, Feb. 2023 / NachDenkSeiten 8..5.2023

[19] The negative impact of unilateral coercive measures on the enjoyment of human rights, Resolution  A/HRC/52/L.18, 3 April 2023

[20] Forciert vor allem durch Juristen aus dem Süden, u.a. im Rahmen der Asian-African Legal Consultative Organization (AALCO). Diese zwischenstaatliche Organisation, zu deren 50 Mitgliedern auch Japan, Indien und Thailand gehören, hat das Thema „Extraterritoriale Anwendung nationaler Rechtsvorschriften: Sanktionen gegen Dritte“ seit 1997 auf der Agenda

[21] UN-GA Res 77/214. Human rights and unilateral coercive measures, General Assembly, Seventy-seventh session, 15.12.2022

[22] Dagegen stimmten: Albanien, Andorra, Australien, Österreich, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kanada, Kroatien, Zypern, Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Deutschland, Griechenland, Irland, Island, Israel, Italien, Japan, Kanada, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Marshallinseln, Ungarn und Zypern, Mikronesien, Monaco, Montenegro, Niederlande, Neuseeland, Nordmazedonien, Norwegen, Palau, Polen, Portugal, Südkorea, Moldau, Rumänien, San Marino, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, Ukraine, Großbritannien, USA.

[23] Idriss Jazairy, Report of the Special Rapporteur on the negative impact of unilateral coercive measures on the enjoyment of human rights, A/HRC/30/4, UNHRC, 10.8.2015

[24] s. Tom Ruys, Sanctions, retorsions and countermeasures : concepts and international legal framework, Kapitel 2, in Research Handbook on UN Sanctions and International Law, L. van den Herik (Hg.) Edward Elgar Publishing, 2017, pp. 19–51

[25] s. Rechtsfragen zu völkerrechtlichen Sanktionen, Wissenschaftl. Dienste des Dt. Bundestages, 8.7.2019

[26] Interview: Most unilateral sanctions violate international law, says UN expert, Xinhua, 13.07.2022

[27] Non-oil goods worth nearly $750m exported from Iran to India in 2 months, Tehran Times, 16.6.2023

[28] J. Guilliard, Der Wirtschaftskrieg gegen den Iran: Aufstieg der Belagerten, Unsere Zeit, 23.6.2023

[29] Charlotte Wiedemann, Iran und der Westen: Kleiner großer Satan, Qantara, 25.06.2018

[30] Russische Wirtschaft: Ölexporte auf höchstem Stand seit April 2020, tagesschau.de, 14.04.2023

[31] Saudi Arabia imports record volumes of discounted Russian fuel oil in June, Al Monitor, 13.7.2023

[32] EU imports record volumes of liquefied natural gas from Russia, FT, 30.8.2023

[33] Russland liefert Rekordmengen Gas über TurkStream nach Europa, DWN, 29.11.2023

[34] EU-Behörde hat Verdacht: Nachbarn helfen Russland, die Sanktionen zu umgehen, Berliner Zeitung, 21.02.2023

[35] How Russia Pays for War, New York Times, 30.10.2022

[36] Russia’s War Economy Expands More Than Forecast Despite Sanctions, Bloomberg News, 11.8.2023, Sanktionen ohne Erfolg? Russlands Wirtschaft erlebt beeindruckende Erholung, Telepolis, 14.8.2023

[37] November 2023 Regional Economic Outlook: Europe — Restoring Price Stability and Securing Strong and Green Growth, IMF, 6.11.2023, s.a. eine Zusammenstellung weiterer Prognosen: IWF und Weltbank erwarten in Russland deutlich weniger Wachstum als die Regierung, Ostexperte, 11.10.2023

[38] s. J. Guilliard, Wer ruiniert wen? ‒ Der Wirtschaftskrieg gegen Russland und seine Folgen, junge Welt 2.3.2023

[39] Europe’s $1 Trillion Energy Bill Only Marks Start of the Crisis, Bloomberg, 18.12.2022

[40] Prof. Horst Löchel, US-Dollar versus RMB – Bipolares Währungssystem möglich, Table Media, 6.6.2023, China wickelt Außenhandel erstmals mehrheitlich in Yuan ab, 02.05.2023

[41] Renminbi’s share of trade finance doubles since start of Ukraine war, Financial Times, 12.4.2023

[42] Gemeinsam unabhängiger ‒ Argentinien und Brasilien streben eine gemeinsame Währung an, IPG Journal, 03.02.2023, Brazil and Argentina to start preparations for a common currency — Other Latin American nations will be invited to join plan which could create world’s second-largest currency union, Financial Times, 22.2.023

[43] Philipp Fess, De-Dollarisierung: Wie nah ist der monetäre Machtwechsel?, Telepolis, 06. Mai 2023

[44] Beginn einer Ent-Euroisierung? Euro-Nutzung bricht laut Swift ein, DWN, 24.09.2023

[45] Pepe Escobar, Die große Leiche: Russland-Iran entledigen sich des Dollars und brechen die US-Sanktionen, The Cradle / seniora.org, 13.2.2023

[46] CIPS Participants Announcement No. 86, CIPS, 30.6.2023

[47] Südasien koppelt sich teilweise vom SWIFT-System ab, Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 16.06.2023

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