„Achse des Völkermordes“ ‒ USA und Deutschland unterstützen offen Israels Vernichtungskrieg

Langfassung eines Kommentars für die Marxistische Blätter, Feb. 2024
s.a. Gaza: Kriegsverbrechen und deutsche Staatsraison, Aufzeichnung eines Online-Vortrags am 17. Januar 2024.

Der Eilentscheid des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 26.01.2024 in der Völkermordanklage Südafrikas gegen Israel wird überwiegend als schwerer Schlag von erheblicher internationaler Bedeutung gegen Israel wie auch seine Förderer gewertet. Viele waren enttäuscht, dass der IGH keinen Waffensillstand angeordnet hat und reden zu Recht, wie die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, von Doppelmoral. [1] In seinem Eilentscheid über den russischen Einmarsch in der Ukraine hat er den sofortigen Rückzug angeordnet. Dennoch ist das Urteil ein Erfolg für Südafrika und die Palästinenser, ein Schlag von erheblicher internationaler Bedeutung gegen Israel und auch seine westlichen Förderer.

So würde die Befolgung der IGH-Anordnungen auch so auf eine weitgehende Einstellung der Kampfhandlungen hinauslaufen. Sie verpflichten Israel alle völkermörderischen Handlungen zu unterlassen bzw. zu verhindern und in ausreichendem Umfang humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu ermöglichen. Bildlich gesprochen, hat der IGH zwar nicht das „Betreten des Rasens“ verboten, aber das Zertreten seiner Grashalme.

IGH: Völkermordvorwurf plausibel

Politisch bedeutsam ist vor allem die Feststellung des Gerichtshofs, dass Südafrikas Völkermordvorwurf begründet und plausibel ist, d.h. er sowohl genügend Belege dafür sieht, dass die israelische Führung die Absicht hat, einen Völkermord zu begehen als auch dafür, dass Israel dabei ist sie umzusetzen. Damit stellt er auch die Bundesregierung bloß, die Südafrikas Anklage als absurd und bar jeder Grundlage abkanzelte.

Es war klar, dass eine Entscheidung des IGHs allein, die israelischen Angriffe nicht stoppen kann, selbst, wenn er einen Waffenstillstand angeordnet hätte. Israel hat seit seiner Gründung alle völkerrechtlich verbindlichen Beschlüsse der UNO und seiner Organe straflos ignoriert und kann darauf bauen, dass es von den USA, Deutschland und anderen Verbündeten weiterhin volle Unterstützung erhält und vor Sanktionen bewahrt wird. Dass der IGH Südafrikas Vorwürfe für plausibel erklärt, ist dennoch ein besonders schwerer Schlag für Israels Bemühungen um sein Ansehen in der Welt. Schließlich spielt der Verweis auf den Völkermord an europäischen Juden, bei der Rechtfertigung seiner Politik eine zentrale Rolle.

Waffenlieferungen sind Beihilfe

Die Feststellung der Plausibilität eines Völkermords betrifft zudem auch alle Unterstützer Israels. Die Völkermordkonvention verpflichtet alle Staaten, alles in ihrer Macht zu tun, um auch nur die bloße Möglichkeit von unter die Konvention fallenden Verbrechen auszuschließen. Mit dieser Verpflichtung zu deren Verhütung begründeten auch die jemenitischen Ansarollah ihre „Sanktionen“ gegen Israel, d.h. das Aufhalten von Schiffen von oder zu israelischen Häfen. Die von Berlin geplante Lieferung weiterer 10.000 Schuss 120-Millimeter-Präzisionsmunition für Panzer wäre hingegen eindeutig Beihilfe.

Die Kampagne gegen das UNRWA

Das Bemühen Tel Avivs den Völkermordvorwurf mit Verweis auf Hamas-Gräuel als unhaltbar und politisch motiviert abzutun, war international aussichtlos. Die israelische Führung hatte jedoch einen Gegenangriff aus dem Hinterhalt vorbereitet. Wenige Stunden nach dem IGH-Urteil startete sie eine Kampagne gegen das UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge UNRWA indem sie Vorwürfe lancieren ließ, zwölf seiner Mitarbeiter hätten sich am 7.10. an Gräueltaten der Hamas beteiligt. Dies hätten, so der israelische Inlandsgeheimdienst Shin Bet, Aussagen gefangener palästinensischer Kämpfer ergeben. Wie jüngste Berichte von Amnesty International über weitverbreitete Folter in israelischen Gefänngissen nahelegen, könnten passende durch Folter erpresst worden sein.[2]

Drei der Beschuldigten sind unter den mehr als 150 UNRWA Helfern, die die israelische Armee bereits getötet hat. Um den Schaden für die Organisation zu begrenzen, entließ das Hilfswerk vorsorglich die neun noch lebenden und kündigte an, alle Vorwürfe gründlich zu untersuchen. Dennoch setzten 15 westliche Staaten sofort ihre Zahlungen an das UN-Hilfswerk aus. Das UNRWA beschäftigt in Gaza 13.000 Mitarbeiter. Selbst wenn die Vorwürfe gegen alle zwölf Beschuldigte zutreffen würden, wäre dies kein glaubhafter Grund für einen solcher Schritt. „Ich habe noch nie eine so willkürliche und rücksichtslose Streichung einer großen Lebensader aufgrund einer bloßen Behauptung einer Konfliktpartei gesehen“, stellte beispielsweise auch Jan Egeland, Generalsekretär des norwegischen Flüchtlingsrats, fest. [3]

Tatsächlich geht es Israel darum, dem IGH-Urteil die Spitze zu nehmen, indem UNRWA und indirekt auch die UNO als parteiisch und unglaubwürdig dargestellt werden. Führende UNRWA-Mitarbeiter dienten, wie auch die anderer UN-Organisationen, als wichtige Zeugen für die Angriffe auf zivile Ziele und die katastrophale Lage der Bevölkerung.

Israel strebt zudem schon seit langem die Auflösung des UNRWA an, da es eines der größten Hindernisse bei der ethnischen Säuberung der besetzten Gebiete und der Auslöschung der Palästinenser als Volk ist. Das Hilfswerk, das in allen Flüchtlingslagern in der Region aktiv ist, ist die Organisation, die sie über ideologische Grenzen hinweg vereint, wo immer sie leben. Mit ihm behalten die von ihrem Land Vertriebenen und ihre Nachfahren ihren Flüchtlingsstatus und damit auch ihr Recht auf Rückkehr aufrecht.[4]

„Aus Sicht der israelischen Regierung sei schon die Existenz von UNRWA ein Skandal, weil die Organisation dazu beitrage, die palästinensische Identität auch im Exil zu stabilisieren,“ betont auch der Deutschlandfunk. Durch seine Auflösung könne das Schicksal der Palästinenser endlich aus dem historischen Kontext der israelischen Staatsgründung gelöst werden ‒ der damit einhergehenden Vertreibung von mehr als der Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung. Im Hilfswerk lebe das „uneingelöste Versprechen der UNO an die Palästinenser nach Selbstbestimmung in einem eigenen Staat“ fort.[5]
Man könne „den Krieg nicht gewinnen, ohne das UNRWA zu zerstören“ tönte es kürzlich auch in der Knesset.[6]

Nach weiteren israelischen Geheimdienst- und Regierungspräsentationen heißt es mittlerweile auch in deutschen Medien, das gesamte Hilfswerk sei „von Hamas infiltriert“. UN-Generalsekretär, UN-Experten und Regierungen des Südens weisen die Vorwürfe als substanzlos zurück, darunter auch der frühere deutsche Leiter des Hilfswerks im Gazastreifen, Matthias Schmale. Selbstverständlich unterhielten Mitarbeiter Kontakte zur Hamas. Da diese das Gebiet regiere, wäre anders die Versorgung der Bevölkerung gar nicht möglich.

Das Hilfswerk ist für das Überleben der geschundenen Palästinenser im Gazastreifen zentral. Statt die Anordnung des IGH zu unterstützen, für ihre ausreichende Versorgung zu sorgen, verschärfen die USA und Deutschland, Großbritannien, Kanada, Australien, Italien, die Niederlande, Finnland, Schottland, Japan und Österreich durch Kappung von über sechzig Prozent der Zahlungen die israelische Blockade.

Dem Juraprofessor Francis Boyle zufolge, der für Bosnien die erste erfolgreiche Völkermordklage vor dem IGH vertrat, beteiligen sie sich damit aktiv am Völkermord. Sie verstoßen damit ebenfalls klar gegen Art II (c) der Völkermordkonvention, die untersagt, einer Bevölkerungsgruppe „vorsätzlich Lebensbedingungen aufzuerlegen, die darauf abzielen, ihre physische Zerstörung im Ganzen oder in Teilen herbeizuführen“. Diese Länder bilden nun, wie es in Kommentaren heißt, eine „Achse des Völkermords“.[7]

Hamas: Differenzierte Bewertung notwendig

Die Kampagne fußt, wie die Rechtfertigung des israelischen Vernichtungsfeldzugs, auf der Dämonisierung der Hamas als reine, von der Bevölkerung abgrenzbare Terrortruppe, die keine auf palästinensischen Interessen bezogene Ziele verfolgt, sondern allein aus ihrem bösartigen Charakter heraus agiert und die Auslöschung Israels wenn nicht der Juden anstrebt. Der 7. Oktober dient dafür als Bestätigung.

Doch was genau an diesem Tag geschah, ist längst nicht geklärt. Sicher ist, dass die gemeinsame Offensive der Hamas und anderer Gruppen in erster Linie militärische Ziele hatte, nicht die wahllose Ermordung von Zivilisten. Dies wird durch Aussagen israelischer Zeugen in israelischen Medien bestätigt, wie auch die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Opfer von den israelischen „Sicherheitskräften“ bei Gegenangriffen getötet wurde, zusammen mit palästinensischen Kämpfern.[8] Auch ein Dossier der ZEIT, bestätigt letztlich den überwiegend militärischen Fokus der Offensive, [9] wie ihn die Hamas in ihrer ausführlichen Erklärung dazu betont, obwohl es sich nur auf israelische Quellen stützt, palästinensische Gräuel betont und die Gegenangriffe der Armee auslässt.[10]

Das schließt natürlich keineswegs Gräueltaten mit hunderten Todesopfer von palästinensischer Seite aus. Doch auch wenn Aktionen der Hamas-teilweise als terroristisch zu bewerten sind, ist sie grundsätzlich als Befreiungsbewegung anzuerkennen. Gaza gilt völkerrechtlich als „illegal besetztes Gebiet“ und die Hamas ist eine bedeutende politische Vertreterin dessen Bevölkerung. Die UN-Generalversammlung hat mit der Resolution 45/130 (1990) den Palästinensern ausdrücklich das Recht auf Widerstand gegen die Besatzung zugestanden, auch mit Waffengewalt, sofern sie sich gegen legitime Ziele richtet.[11]

Die Grausamkeit und Gewalt der aktuellen Angriffe unterscheiden sich nicht von der Gewalt aller antikolonialer Befreiungskämpfe. Frantz Fanon hat in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ ja eindrucksvoll beschrieben, wie die Gewalt der Unterdrücker auf grausame Weise zurückschlagen kann. Es ist die typische Gewalt asymmetrischer Kriege, die ein Kommandant der FLN in Algerien mit seiner Antwort auf die Frage, ob es moralisch vertretbar sei, Sprengsätze in Einkaufskörben von Frauen zu verstecken, um eine größere Zahl von Menschen zu töten, gut auf den Punkt brachte. Er fragte zurück, ob Bomben auf wehrlose Dörfer, die tausendmal mehr unschuldige Opfer töten, nicht viel verwerflicher wären, und bot an: „Gebt uns eure Bomber und ihr könnt unsere Körbe haben.“[12]

Die Hamas hat 2017 ihre Charta grundlegend geändert und erkennt nun die Existenz Israel in den Grenzen von 1967, wie auch die Abkommen der PLO mit Israel an. Für die Menschen im Gaza-Streifen ist sie auch die wichtigste Kraft, die zusammen mit den Hilfsorganisationen seit 2005 ihr Überleben organisiert.

Gemäß einer Umfrage im Westjordanland und im Gazastreifen, die Ende November mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt wurde, steht eine große Mehrheit dort hinter der Hamas und auch hinter der Offensive vom 7. Oktober. Nur 10 Prozent glauben, dass die Hamas-Brigaden dabei Kriegsverbrechen begangen haben. [13]

„Die Hamas existiert. Sie kann nicht einfach ausgelöscht werden“, betont der palästinensische Arzt und Politiker Mustafa Barghouti, der als möglicher Nachfolger von Mahmud Abbas als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde gilt, gegenüber der taz. Sie sei „eine komplexe Bewegung“ und „Teil unserer Gesellschaft“.[14] Auch die beiden marxistischen Organisationen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) arbeiten mit Hamas zusammen und beteiligten sich an Offensive. Auf Kritik an dieser Zusammenarbeit erklärte Fouad Baker, ein Sprecher der DFLP, gegenüber junge Welt: „Im Zentrum steht ein gemeinsames Ziel, ungeachtet der ideologischen Unterschiede: die Beendigung der Besatzung.“[15]

Wer die Gewalt beenden will, muss die Ursache, Besatzung, Unterdrückung, Vertreibung beenden.


[1] IGH-Urteil zu Gaza: UN-Sonderberichterstatterin Albanese rügt doppelte Standards, Deutschlandfunk, 27.1.2024, Norman Paech, Gazakrieg: Keine Hoffnung für Gaza: Entscheid des Haager Gerichtshofs ist eine bittere Enttäuschung und zeugt von Doppelmoral, junge Welt, 29.01.2024

[2] Israel/OPT: Horrifying cases of torture and degrading treatment of Palestinian detainees amid spike in arbitrary arrests, AI, 8.11.2023 .s.a. “New Guantánamo”: Euro-Med Monitor calls for international probe into Israel’s torture and murder of Gaza detainees, OCHA ReliefWeb, 8.12.2023

[3] Vorwürfe an UNRWA: Waren U.N.-Mitarbeiter am Hamas-Angriff auf Israel beteiligt? Washington Post / FR, 30.01.2024

[4] Mit seinem Krieg gegen das UN- Flüchtlingshilfswerk stellt sich der Westen offen auf die Seite des israelischen Völkermords, Jonathan Cook, 30.01.2024

[5] UNRWA und Hamas: So schwer wiegen die Vorwürfe Israels gegen das Palästina-Hilfswerk, DLF, 09.02.2024

[6] Former Israeli official Noga Arbell urges for ‘destruction of UNRWA’ in parliamentary discussion, Middle East Monitor, 29.01.2024

[7] Michael F. Brown, States gutting UNRWA are complicit in genocide, Electronic Intifada, 1.2.2024

[8] s. u.a. Florian Rötzer, Haben israelische Soldaten bei der Rückeroberung der Ortschaften auch israelische Zivilisten getötet?, Overton Magazin, 26.11.2023, , Robert Inlakesh,  Sharmine Narwani, Was geschah wirklich am 7. Oktober?, The Cradle/Linke Zeitung, 6.11.2023, War der 7. Oktober ein Massaker der Hamas oder der Israelis?, Linke Zeitung, 26. November 2023

Israels 43-minütiges Video der Hamas-Gräueltaten entlarvt, The Cradle/Linke Zeitung, 7.12.2023

[9] Hamas-Angriff am 7. Oktober: Der Tag, der nicht enden will, ZEIT ONLINE, 1. 2.2024

[10] Our Narrative … Operation Al-Aqsa Flood, Medienabteilung der Hamas, 20.1.2024

[11] John Neelsen, Gaza, der Westen und das Völkerrecht, 6.1.2024

[12] The false equivalence of the colonized and colonizer, Hamza Hamouchene, Africa Is a Country, 21.11.2023

[13] Palestine: Public Opinion Poll No (90), PCPSR, 13.12.2023

[14] Mustafa Barghouti über den Gazakrieg: „Hamas ist Teil unserer Gesellschaft“, taz, 27.01. 2024

[15] »Im Zentrum steht die Beendigung der Besatzung« ‒ Die DFLP kämpft an der Seite der Hamas, jW, 05.01.2024

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