Angesichts der rasch steigenden Zahl positiver Corona-Tests werden auch wieder Maßnahmen ausgeweitet und geplant, die massiv ins Leben von Millionen Menschen eingreifen. Das Vorgehen ist, wie schon im Frühjahr, von Aktionismus und ‒ vor dem Hintergrund der weitverbreiteten, stetig geschürten Ängste ‒ Populismus geprägt. Dabei werden auch die meisten seit Frühjahr gemachten Erfahrungen und vertieften wissenschaftlichen Erkenntnisse größtenteils missachtet, die an sich für eine gewisse Entwarnung sorgen können, wie auch aktuelle Einschätzungen und Empfehlungen renommierter Fachleute, Ärztevertreter, Leiter von Gesundheitsbehörden.
Kritik und Vorschläge von Praktikern aus dem Gesundheitswesen
Dabei hatten sich in den letzten Wochen immer mehr Praktiker aus dem Gesundheitswesen mit deutlicher Kritik gegen den praktizierten Umgang mit der Pandemie und alternativen Vorschlägen für ein gezielteres Vorgehens an die Politik gewandt, darunter der Leiter des Gesundheitsamtes in Frankfurt a.M., Prof. René Gottschalk, und seine mittlerweile pensionierte Stellvertreterin, Prof. Ursel Heudorf, der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. med. Andreas Gassen, der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, der Präsident der Bundesärztekammer Dr. med. Klaus Reinhardt und der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Prof. Uwe Janssens. (s. die Zusammenstellung „Corona: Praktiker und Pragmatiker aus dem Gesundheitswesen gegen “falschen Alarmismus” und “absurde Regeln“).
Für sie, so der Tenor dieser Fachleute, hat das, was sie und ihre Kollegen im Alltag erleben, wenig mit dem zu tun, was Politik und Medien verbreiten. Tonangebend seien Experten mit einem eng auf ihr Fachgebiet fokussierten Blick, in erster Linie Virologen. „Fachärzte für Öffentliches Gesundheitswesen, die für solche Situationen eine lange aufwendige Weiterbildung absolvieren müssen, waren nur selten involviert“, so der Frankfurter Gesundheitsamtsleiter Gottschalk. „Das Vorgehen entspreche daher auch nicht dem, was fachlich ‒ auf Basis von Erfahrungen, ausgearbeiteten Epidemie-Plänen und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen über den neuartigen Corona-Virus ‒ geboten wäre.“ Auch wenn die Zahl von Positiv-Tests pro Tag steige, warnen die Kritiker vor „falschem Alarmismus“ und dem unnötige Schüren von Ängsten und verlangen die Aufhebung der neuen „absurden Regeln“.
Da die Höhe der gemeldeten Infektionszahlen stark von der Zahl der Test abhänge und hier häufig auch Fälle registriert werden, die gar nicht ernsthaft infiziert sind, müsse man auch die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, ab der Kreise und Städte zu Risikogebieten erklärt werden, deutlich angehoben werden. Diese Zahl stamme noch aus einer Zeit mit wöchentlich 400.000 Tests und einer noch relativen hohen Zahl von Infizierten. Inzwischen werde dreimal so viel getestet. „Viel mehr Tests, viel weniger Positive: Vor dem Hintergrund könnte man nach Berechnungen des Zentral-Instituts der kassenärztlichen Versorgung die kritische Schwelle auf 136 hochziehen, um das gleiche Risiko abzubilden,“ erläuterte Ärztechef Gassen. (“Aufhören mit den absurden Regeln” – Kassenarztchef Gassen zur Corona-Lage, Neue Osnabrücker Zeitung, 10.10.2020)
Die Kritiker sind sich auch einig, dass man sich vom ausschließlichen Fokus auf Eindämmung des Virus verabschieden muss. Sie empfehlen, sich nun endlich stärker auf den Schutz von Risikogruppen zu konzentrieren. Zukünftig soll die Beratung der politischen Verantwortlichen durch einen Beraterstab verschiedener Experten durchgeführt werden. „Hierbei müssen erfahrene Fachärzte für Öffentliches Gesundheitswesen eine wesentliche Rolle spielen, “ fordern Gottschalk, und seine frühere Stellvertreterin, Prof. Heudorf.
Geringere Sterblichkeit
Nicht berücksichtigt wird beim erneuten Teil-Lockdown, dass, wie mittlerweile zahlreiche Untersuchungen zeigen, das neue Virus offensichtlich deutlich weniger gefährlich ist, als im Frühjahr zu befürchten war. Einer Studie des RKI zufolge ist der Anteil sehr schwerer Verläufe um gut 50% höher als bei der Grippe und die der Toten um 75%. Der Unterschied ist zwar beträchtlich, aber dennoch weniger massiv, als meist nahegelegt wird. (RKI Studie: Eine höhere Letalität und lange Beatmungsdauer unterscheiden COVID-19 von schwer verlaufenden Atemwegsinfektionen in Grippewellen. RKI, 28.08.2020)
Eine im Bulletin der WHO veröffentlichten Metastudie des international angesehenen Epidemiologen John Ioannidis von der Stanford University ergab, dass die Sterblichkeit von Infizierten (Infection fatality rate IFR) unter 0,25 Prozent liegt (Median 0,23%), allerdings stark abhängig von Alter und Regionen ist. (Infection fatality rate of COVID-19 inferred from seroprevalence data, ) Für die meisten Regionen errechnete die Studie eine Sterblichkeit von unter 0,2 Prozent. Da die ausgewerteten Antikörperstudien die Zahl der tatsächlich Infizierten unterschätzen und die Zahl der Toten auch viele Fälle enthält die nur „mit“ dem Corono-Virus starben, liegt die tatsächliche IFR, so Ioannidis noch wesentlich darunter. Die neue Studie bestätigte damit Studien im Frühjahr, die die IFR auf Basis einer bekannter Zahl von Infizierter berechnen konnten. (s. „Sterblichkeit überschätzt“ in meinem ausführlichen Artikel vom Mai 2020, „Lockdown gegen Corona: unverhältnismäßig und verantwortungslos“).
Würde man sich bemühen, so Ioannidis, mit präzisen Maßnahmen die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen effektiv zu schützen, könne sie noch erheblich gesenkt werden. Denn bei Menschen unter 70 Jahren liegt der Median der IFR bei nur 0,04 Prozent.
Die WHO geht nach ihren „aktuell besten Abschätzung“ davon aus, dass sich mittlerweile bereits 10% der Weltbevölkerung mit dem neuen Virus infiziert haben, also rund 800 Millionen Menschen. Bei aktuell rund einer Million Toten entspricht dies einer IFR von 0,125%, nur wenig über der, einer heftigen Grippe. (Coronavirus: WHO estimates 10% of global population infected with COVID-19, DW, 05.10.2020)
Auch wenn das individuelle Risiko eines Infizierten ´an der Krankheit zu sterben, bei Covid-19 vermutlich nicht sehr viel größer ist als bei Grippe, ist das neue Corona-Virus selbstverständlich aktuell, aufgrund der noch geringeren Immunität in der Bevölkerung, eine wesentlich ernstere Bedrohung. Dies gilt in erster Linie für ältere Menschen mit anderen Erkrankungen, Wenn man, wie von den oben erwähnten Fachleuten und Ärzteverbänden empfohlen, statt ausschließlich auf die Infektionszahlen zu starren, sich stärker auf den Schutz dieser Risikogruppen konzentrieren würde, könnten viele nun verhängten oder ins Auge gefassten Beschränkungen, deren Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit ohnehin oft fraglich sind, unterbleiben.
Interesse an hohem Alarmpegel
Wenn weder die geringere Gefährlichkeit noch die, u.a. auch darauf basierenden Empfehlungen von Ärzten und Praktikern aus dem Gesundheitswesen keinen spürbaren Einfluss auf Politik und Berichterstattung hat, liegt der Verdacht nahe, dass maßgebliche Kreise ein starkes Interesse daran haben, den Alarmpegel hoch zu halten.
Das beginnt wohl schon bei den Medien, für die ‒ abgesehen direkter Interessen ihrer Eigentümer und Chefredakteure ‒ eine Pandemie, solange sie hochgefährlich erscheint, ein dankbares Thema ist. Selbst im Sommerloch konnte sie für Schlagzeilen sorgen und auch jetzt kann sie Tag für Tag auf bequeme Art Blätter und Portale füllen und Konsumenten auf ihre Internetseiten locken. Verantwortliche Politiker wiederum können sich umso mehr profilieren, je gefährlicher eine Krise erscheint. Wo stünde ohne das Bedrohungsszenario ein Ministerpräsident Söder in der Beliebtheitsskala, wen würde die Meinung eines Politikers wie Karl Lauterbach mit seiner fragwürdiger Professorenwürde interessieren?
Viele in Politik und Wirtschaft suchen sicherlich die Krise zu nutzen, um im Windschatten von Corona seit längerem gehegte Pläne auf den Weg zu bringen, auszuloten, was in einer Krisensituation geht, und versuchen, die Grenzen des Machbaren zu erweitern, z.B. im Bereich Überwachungstechnik.
Die tonangebenden Wissenschaftler, auf die sich die Politiker stützen, können sich nicht nur über ihre im Zuge der Corona-Krise gewonnene Popularität freuen, sondern auch über den reichlichen Zufluss von Forschungsgeldern für ihre Institute. Die enorme Ausweitung von Tests ist natürlich außerordentlich profitabel für Entwickler und Produzenten der Testkits sowie der völlig ausgelasteten Labore. Und im Hintergrund erfreuen sich Großkonzerne und Banken der Subventionen im zweistelligen Milliardenbereich, mit der sie ohne Corona in der sich schon vorher abzeichnenden Wirtschaftskrise nicht so reichlich hätten rechnen können ‒ von den ganz großen Krisengewinnlern, wie Amazon, Apple, Google und Facebook ganz zu schweigen.
Fehlerhafte „Infektionszahlen“
Der Alarmismus stützt sich dabei ausschließlich auf den Anstieg positiver Corona-Tests, die von Politik und Medien meist fälschlicher Weise fälschlich als „Infektionszahlen“ bezeichnet werden. Ein positives Testergebnis sagt aber zunächst nichts darüber aus, ob jemand wirklich infiziert oder gar ernsthaft erkrankt ist. Wenn von neuen Rekordzahlen die Rede ist, die bereits wieder so hoch wie im April seien, wird geflissentlich ignoriert, dass mittlerweile drei bis viermal so viel getestet wird.
Dadurch wird nicht nur ein viel größerer Teil von symptomlosen Infizierten erfasst, es fallen dadurch auch die Fehlerraten der Tests immer mehr ins Gewicht, selbst wenn diese an sich recht niedrig sind.
Das RKI hatte früher noch einen Hinweis auf möglich falsch-positive Testergebnisse in ihren FAQs zum Corona-Virus, diesen aber im Juni entfernt. Es macht keine Angaben über die Testgenauigkeit der in Deutschland verwendeten Tests. Laut einem Ende April durchgeführten Ringversuch von INSTAND e.V. lag die Spezifität der Tests in deutschen Laboren zwischen 97,8% und 98,6%, d.h. zwischen 1,4 und 2,2% der Ergebnisse waren „falsch positiv“. Vermutlich konnte die Genauigkeit mittlerweile verbessert werden. Solange sehr häufig anlasslos, d.h. ohne konkreten Verdacht, Leute getestet werden, von denen nur wenige Promille infiziert sind, werden selbst dann, wenn die Falsch-Positiv-Rate auf durchschnittlich 0,2%, gesenkt werden konnte, bei über einer Million Tests pro Woche rund 2000 fälschlich als positiv gewertet, bei realistischeren 0,5% sogar 5000. Von den im September gemeldeten 8.000 bis 10.000 wöchentlichen Fällen waren somit 25 bis 50 Prozent vermutlich gar nicht oder nicht ernsthaft infiziert. (ausführlicher unter Corona: „Infektionszahlen“ irreführend)
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch eine Untersuchung gängiger PCR-Test durch US-Wissenschaftler, über die New York Times Ende August berichtete (Your Coronavirus Test Is Positive. Maybe It Shouldn’t Be,NYT, 29,8.2020). Durch die zu hohe Anzahl von Vermehrungs-Zyklen zum Nachweis von Virus-typisch Gensequenzen (i.d.R. 40) seien die Tests zu überempfindlich. Sie empfehlen diese Zahl so reduzieren, dass sie nur dann positive Ergebnisse liefern, wenn eine signifikante Menge des genetischen Materials in den Proben enthalten war und man so von einer tatsächlichen Infektion ausgehen könne. Bei Nachtests mit einer auf maximal 35 reduzierten Zyklenzahl wurden rund 50 Prozent der zuvor positiven Tests als negativ eingestuft, bei einer als durchaus sinnvoll angesehenen Begrenzung auf 30 sogar 70 Prozent. Da auch deutsche Labore mit einem Schwellenwert von 40 arbeiten, sind wahrscheinlich auch hierzulande über die Hälfte der positiv Getesteten nicht ernsthaft infiziert.
Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Zahl der Infizierten überschätzt wird, da wir, „aufgrund der immer noch chaotischen Testsituation nicht wissen, was uns an tatsächlichen Infektionen entgeht, also wie hoch die Dunkelziffer ist“, so Gerd Antes, Mathematiker und Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg. „Auch die Sache mit dem Erkenntnisgewinn – Stichwort Dunkelziffer – geht völlig schief, wenn ich kein Konzept habe und die zum Testen ranlasse, die getestet werden wollen.“ (Mathematiker Gerd Antes über die Corona-Zahlen: “Wir sollten mehr wagen!”, Abendzeitung München, 10.10.2020)
Irreführender Zahlenzauber
Nach wie vor werden täglich auch noch die Kurven mit den akkumulierten Gesamtzahlen der „Infizierten“ präsentiert. Die hohen, ständig weiter wachsenden Zahlen sollen ebenfalls die Gefährlichkeit des Virus unterstreichen, sind aber für eine Einschätzung der aktuellen Situation noch weit weniger geeignet als die der täglich gemeldeten positiven Tests. Ihre Präsentation ist geradezu widersinnig, da eine hohe Gesamtzahl ja durchaus wünschenswert ist: denn je mehr sich bereits mit dem neuen Virus infiziert haben, desto weniger können ihn zukünftig weiterverbreiten, d.h. desto größer ist bereits die Immunität in der Bevölkerung.
Allerdings zeigen sie aufgrund der hohen Dunkelziffer nur einen Bruchteil der bereits Infizierten. Geht man von einer Infiziertensterblichkeit von 0,23% aus, die die oben zitierten Ioannidis-Studie ermittelte, so könnten in Deutschland Ende Oktober, bei rund 10.000 an oder mit Corona Gestorbenen, schon über vier Millionen infiziert gewesen sein, 5% der Bevölkerung. Legt man die sich aus der WHO-Schätzung ergebende Sterblichkeit von 0,125% zugrunde, wären es sogar acht Millionen oder 10%.
Als Maßstab für das Pandemiegeschehen werden ‒ entgegen den Rat vieler Experten ‒ immer noch in erster Linie die Zahl der „Neuinfektionen“ gewertet. Eine bessere Einschätzung des Infektionsgehens liefert jedoch die Entwicklung der Zahl derer, die aufgrund eines schweren Verlaufs stationär behandelt werden. Deren Anteil an den positiv Getesteten ist im Sommer auch noch gesunken, als die der täglich neu gemeldeten Fälle schon stiegen.
Mittlerweile steigt auch die Anzahl der hospitalisierten Corona-Patienten wieder stark an, weil sich, wie zu erwarten, mit dem Herbstbeginn mehr Menschen ernsthaft infizieren. Dieser Anstieg ist jedoch weit weniger dramatisch, als die der positiven Tests. Während die Zahl der Hospitalisierten sich von 250 pro Woche Anfang Juli auf 1250 Anfang Oktober verfünffachte wuchs die der Positivtests in dieser Zeit von 2400 auf 26.000 um das Zwölffache.
Nun wird mit täglichen Rekordzahlen von „Neuinfizierten“ Alarmstimmung erzeugt, noch nie seien an einen Tag so viele gemeldet worden. Dies ist jedoch völlig irreführend. Mit der aktuellen Anzahl von Tests und gleicher Teststrategie wären die Fallzahlen im Frühjahr selbstverständlich um ein Vielfaches höher gewesen. Geht man von der Fallsterblichkeit im September und Oktober aus, so wären Anfang April, bei 2250 Toten pro Woche, bei ähnlicher Testintensität wie heute rund 320.000 positive Test registriert worden, 45.000 pro Tag (s. ausführlicher in Corona: Rekordzahlen durch irreführende Vergleiche)
Anstieg im Herbst war zu erwarten
Der Anstieg ernsthafter Covid-19-Fälle war nach Ende des Sommers zu erwarten gewesen. Mit dem Herbstbeginn nehmen bekanntlich die Atemwegserkrankungen zu und Covid-19 reiht sich nun einfach ein. Wenn jetzt von Regierung und Medien Leichtsinn, mangelnde Disziplin etc. für den Anstieg der Infektionen gemacht wird, so ist das daher üble Stimmungsmache mit dem von den Versäumnissen der Verantwortlichen abgelenkt wird. Im letzten halben Jahr wäre genügend Zeit gewesen das Vorgehen im Herbst breit, unter Einbeziehung der Parlamente, Ärztevertretern, Experten des Gesundheitswesens wie auch anderer Fachgebiete, wie Psychologen, Sozialwissenschaftler, Ökonomen, Juristen etc., zu diskutieren. Es wäre auch Zeit gewesen in Vorbereitung auf Herbst und Winter, Gesundheitsämter, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen etc. personell aufzustocken.