Studie von Ioannidis und Kollegen sieht keine Wirkung von Lockdowns

Massiv restriktive staatliche Maßnahmen zeigen nach Abzug der Effekte weniger restriktiven Maßnahmen und anderer Einflüsse auf die Ausbreitung von Covid-19 keinen darüber hinausgehenden Effekt.

Update 21.2.2021: Die Corona Data Analysis Group (CoDAG) an der LMU München hat die Wirkung der Lockdown-Maßnahmen ab November in Deutschland untersucht. Die Forscher der AG kamen zu Schluss, dass „die Wirkung des Teil-Lockdowns innerhalb von Deutschland komplett unterschiedlich war.“ In Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen hatte der Teil-Lockdown keinerlei Effekt. Die Verschärfung der Maßnahmen Anfang Dezember hatte im ganzen Land kaum Wirkung, die Infektionen nahmen zum Teil zu . (CODAG Bericht Nr. 7, 21.1.2021)

Die Wissenschaftler der Leopoldina versuchten in ihrer Ad-hoc-Stellungnahme vom Dezember die Wirksamkeit von Lockdowns mit dem damaligen Rückgang der Corona-Fälle in Irland zu belegen, das bereits im Oktober das öffentliche Leben heruntergefahren hatte. Die Entwicklung in Slowenien, das fast gleichzeitig einen Lockdown angeordnet hatte, behielten sie in dem Papier, das als Rechtfertigung des verschärften Lockdowns in Deutschland dienen sollte, lieber für sich. Denn dort waren die Fallzahlen dennoch auf hohem Niveau geblieben. Auch in vielen anderen Ländern führten die strengen Restriktionen zu keinem essentiellen Rückgang, in Irland kletterten sie ab Ende Dezember sogar auf Rekordhöhe.

Man kann den Leopoldina-Experten daher nur raten, sich für zukünftige Ländervergleiche ein Beispiel an einer Vergleichsstudie nehmen, mit der ein Team um John Ioannidis, einem der international renommiertesten Epidemiologen, die Wirksamkeit von rigiden Anti-Corona-Maßnahmen im Frühjahr 2020 überprüften. Die Studie wurde vor kurzem nach einem Peer-Review veröffentlicht. (John P.A. Ioannidis, Eran Bendavid, et.al, Assessing Mandatory Stay‐at‐Home and Business Closure Effects on the Spread of COVID‐19, European Journal of Clinical Investigation, 5.1.2021).

Zu den rigiden sogenannten „nicht-pharmakologischen Maßnahmen“ (NPI), deren Nutzen die Forscher überprüfen wollen, zählen Ausgangssperren und Schließungen von Geschäften, Restaurants  und anderen Einrichtungen. Sie halten diese Überprüfung aufgrund ihrer starken schädlichen gesundheitlichen Auswirkungen für dringend notwendig. Dazu gehören, wie die als Quellen aufgeführten Studien zeigen, eine Zunahme von Hunger, Drogenmissbrauch, versäumten Impfungen, Nicht-Covid-Krankheiten durch unterlassene Behandlungen, häuslicher Gewalt, psychischen Erkrankungen und Selbstmorden sowie wirtschaftliche Folgen mit weiteren gesundheitlichen Auswirkungen.

Sie betrachteten dazu die zeitlichen Verläufe der Zahl gemeldeter Coronafälle in den einzelnen Regionen von zehn Ländern in Abhängigkeit der jeweiligen Maßnahmen und verglichen sie mit statistischen Methoden. Neben den europäischen Ländern England, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Spanien und Schweden wurden auch der Iran, Südkorea und die USA einbezogen.

Lockdowns wurden als „massiv restriktive NPI“ (mrNPI) gewertet, im Unterschied zu den „weniger restriktiven NPI“ (lrNPIs), wie Hygiene, Abstandhalten und Verbot größerer Veranstaltungen, auf die sich Schweden und Südkorea durchgängig beschränkten. Letztere dienten daher als Vergleichsländer.

Es gibt bereits eine ganze Reihe von Studien, die die Auswirkung von Maßnahmen auf den Verlauf der Infektionszahlen abzuschätzen suchen. Eine große Schwäche dieser Analysen ist, so Ioannidis und seine Kollegen, dass sie als Basis für den Vergleich des Verlaufs der Neuinfektionen nach Einführung von bestimmten NPIs die Wachstumsraten davor nehmen. Sie gehen somit ohne weiteres davon aus, dass die Entwicklung ohne diese NPIs unverändert weitergegangen wäre. Dies sei jedoch problematisch, da die Dynamik von Epidemien zeitlich variiere und ihre Ausbreitung auch ohne Interventionen, gebremst werde, beispielsweise durch das Abklingen von Infektionen oder selbständige Verhaltensänderungen der Bevölkerung. Dies werde auch für Covid-19 durch eine Analyse belegt, die zeige, dass die Verlangsamung des Wachstums der Infektionszahlen „in vielen Kontexten ähnlich war, und zwar in einer Weise, die eher mit der natürlichen Dynamik als mit politischen Vorschriften übereinstimmt.“

Ioannidis & Co. wählten daher einen anderen Ansatz, der den Nettoeffekt von mrNPIs ermittelt, der über die von lrNPIs und andere Einflüsse, wie saisonalen Effekte hinausgeht, indem sie die Ausbreitung der Epidemie in den Ländern, in denen mrNPIs verhängt wurden, mit denen der beiden Länder verglichen, in denen nur lrNPIs in Kraft waren. Sie verwendeten dazu mit dem „First-Difference-Modell mit festen Effekten“ eine gängige Methode zur Eliminierung nicht direkt bestimmbarer Einflüsse bei der Untersuchung kausaler Zusammenhänge von Ereignissen, wie politischen Entscheidungen, und den Daten aus Beobachtungsreihen (Paneldaten).

Dazu bildeten sie für die subnationalen Einheiten eines Landes (Bundesland, Region, Provinz …) pro Tag die Differenz der Anzahl der bestätigten Fälle zum Vortag, als Annäherung an die tatsächliche Wachstumsrate der Infektionen. Durch die Betrachtung der Differenzen auf regionaler Ebene, können fixe regionale Einflüsse eliminiert werden. Für jeden Tag wurde auch bestimmt, welche der Maßnahmen (Schulschließung, Ausgangssperre …) in Kraft waren. Zudem wurde das Auftreten von Einflussfaktoren auf die Fallzahlen berücksichtigt, die nichts mit den NPIs zu tun haben, aber zu abrupten Änderung der Fallzahlen führen, wie Änderungen bei den Falldefinitionen oder der Tests.

Das Ausmaß des zusätzlichen Effekts von mrNPIs auf die Verringerung neuer Ansteckungen wurde für jedes der acht Länder mit mrNPIs bestimmt, indem von deren gesamten, kombinierten Effekte die Effekte der lrNPIs und der Eigendynamik der Epidemie aus den Vergleichsländern abgezogen wurden.

In 9 der 10 untersuchten Länder waren die NPIs mit einer deutlichen Reduktion des Fallwachstums verbunden, auch in Südkorea und Schweden. Nur bei Spanien zeigte sich kein signifikanter Effekt. Nach Abzug der lrNPI-Effekte und der Eigendynamik der Epidemie wies aber kein Land einen eindeutigen positiven Einfluss seiner mrNPIs auf das Fallwachstum auf.

Die Studie kam zum Schluss:

„Im Rahmen dieser Analyse gibt es keine Hinweise darauf, dass restriktivere nicht-pharmazeutische Interventionen (‚Lockdowns‘) wesentlich dazu beigetragen haben, die Kurve der Neuerkrankungen in England, Frankreich, Deutschland, Iran, Italien, den Niederlanden, Spanien oder den USA Anfang 2020 zu drücken. Vergleicht man die Effektivität von NPIs auf die Fallwachstumsraten in Ländern, die restriktivere Maßnahmen umgesetzt haben, mit denen, die weniger restriktive Maßnahmen umgesetzt haben, deuten die Belege nicht darauf hin, dass mrNPIs einen zusätzlichen bedeutenden Nutzen über lrNPIs hinaus bieten.

Während bescheidene Reduktionen durch mrNPIs in einigen wenigen Ländern nicht ausgeschlossen werden könnten, so die Autoren, deute nichts darauf hin, dass mrNPIs einen bedeutenden zusätzlichen Nutzen über lrNPIs hinaus bieten. Ihren Berechnungen zufolge hatten sie häufig sogar eine eher gegenteilige Wirkung.

Die Autoren folgern daraus, dass offensichtlich schon die frühen, weniger restriktiven Maßnahmen eine ausreichende Wirkung hatten. Sie gehen zudem davon aus, dass „die Schwere des von den Individuen wahrgenommenen Risikos eine stärkere Triebkraft für ansteckungshemmende Verhaltensweisen war als die spezifische Art der NPIs“. Angesichts der Auswirkungen der Pandemie in China, Italien oder New York hätten viele die Empfehlungen zur Vermeidung von Ansteckungen, wie die Reduktion von sozialen Kontakten, schon vor der Einführung massiver Restriktionen beherzigt.

Sie räumen ein, dass auch ihre Studie Beschränkungen unterliegt, wie sie für alle Studien zum Thema gelten. Zum einen seien länderübergreifende Vergleiche generell schwierig und zum anderen würden die Zahlen gemeldeter Fälle nur ein unscharfes Maß für die Infektionsraten liefern. Doch auch wenn keine genaue Schätzung der Wirksamkeit möglich ist, halten sie abschließend fest, dass keinerlei Evidenz gefunden wurde, der einen Nutzen von Lockdown-Maßnahmen unterstützen könne. Auch wenn sie die Möglichkeit eines gewissen Nutzens nicht völlig ausschließen können, so stehe dieser „möglicherweise in keinem Verhältnis zu den zahlreichen Schäden dieser aggressiven Maßnahmen“.

Das Ergebnis bestätigt letztlich die Schlussfolgerungen früherer Untersuchungen, die zeigen, dass die Infektionszahlen im Frühjahr schon vor Lockdown-Maßnahmen zu sinken begonnen hatten. (s. u.a. Christof Kuhbandner, Warum die Wirksamkeit des Lockdowns wissenschaftlich nicht bewiesen ist, Telepolis, 18.12.2020)

Auch die Ausbreitung der Coronavirus ab dem Herbst in Ländern, die im Frühjahr weitgehend verschont geblieben waren (z. B. Österreich und Griechenland), verdeutlichen nach Ansicht der Studienautoren die begrenzte Fähigkeit der NPIs, seine Ausbreitung zu kontrollieren. Ein Vergleich der Todesfälle in der späteren Welle vor der Einführung von mrNPIs mit der ersten Welle nach Einsatz von mrNPIs zeige, dass der Anteil der COVID-19-Todesfälle, die in Pflegeheimen auftraten, unter mrNPIs oft höher war als unter weniger restriktiven Maßnahmen. Dies sei ein weiterer Hinweis darauf, dass restriktive Maßnahmen keinen Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen garantieren. Es gebe auch Hinweise darauf, dass unter restriktiveren Maßnahmen Infektionen in Einrichtungen, in denen gefährdete Bevölkerungsgruppen leben, im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger auftreten können.

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