Maßnahmen gegen Coronavirus-Pandemie: Nicht mehr Schaden als Nutzen anrichten

In verschiedenen Diskussionen über Zweckmäßigkeit, Angemessenheit- und Verhältnismäßigkeit der in Deutschland gegen die Ausbreitung des Coronavirus verordneten Maßnahmen, stand die Frage im Vordergrund, welche Alternativen es denn – bei aller Kritik – gegen Ausgangsbeschränkungen, Schließung von Schulen, Unis, Sporteinrichtungen etc. gäbe.

Hier ein Überblick dazu, der aus den Diskussionen entstanden ist.
Heidelberg, 30.3.2020, Updates: 2.4.2020

Man muss die Gefahr des neuen Virus selbstverständlich ernst nehmen und, so lange seine Gefährlichkeit aufgrund unzureichender Daten noch nicht gut einzuschätzen ist, jeweils vom – nach aktueller Datenlage – Schlimmsten ausgehen. Nahezu alle Regierungen, von China über Russland und Kuba bis zur EU, handeln entsprechend, ergreifen aber unterschiedliche Maßnahmen.

Bei einer Einschätzung dieser Maßnahmen muss man sich zunächst vor Augen halten, dass es nicht darum geht, die Ausbreitung des Virus völlig zu stoppen – das ist schlicht nicht möglich – sondern nur, sie abzubremsen, damit das Gesundheitssystem nicht überfordert wird und die schwerer Erkrankten behandelbar bleiben. Da mit einem Impfstoff wohl kaum vor Anfang nächsten Jahres gerechnet werden kann, wird ein Ende der massiven Ausbreitung letztlich jedoch erst nach Ansteckung und Immunisierung eines größeren Teils der Bevölkerung eintreten. D.h. es ist durchaus nötig, dass sich ständig Leute infizieren — in begrenzter Zahl und möglichst nur die, die i.d.R. nur leicht erkranken. Die, die eine Infektion hinter sich gebracht haben  – mit oder ohne Symptome – bilden, da nun immun, einen zunächst kleinen, aber wachsenden Schutzschirm.

Entscheidend beim Eindämmen der Epidemie ist daher keineswegs die Gesamtzahl der Infizierten, sondern allein die Zahl der schwer am Virus Erkrankten, die ins Krankenhaus müssen, insbesondere die Zahl derer, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Diese darf die Kapazitäten eines Landes nicht sprengen, da sonst die Zahl der Opfer des Virus durch mangelhafte Versorgung von Kranken (nicht nur Covid-19-Fälle) steigen würde. In Deutschland können aktuell ca. 15.000 Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt werden, das sind ca. 19 pro 100.000 BürgerInnen.

Verhältnismäßigkeit des „Lockdown“ fraglich

Die wichtigsten Maßnahmen gegen eine zu rasche Ausbreitung des Virus bzw. Zunahme schwerer Covid-19-Erkrankungen sind (neben den selbstverständlichen Hygienemaßnahmen) die Isolierung Erkrankter und häusliche Quarantäne für Kontaktpersonen, das ist unstrittig. Dazu kommt der besondere Schutz von Personen mit einem erhöhten Risiko, schwer zu erkranken.
Zudem müssen zum Bremsen der Ausbreitung natürlich auch Kontakte in der gesamten Bevölkerung eingeschränkt werden. Am meisten bringt logischer Weise die Verhinderung großer Ansammlungen. Das Aussetzen von großen Veranstaltungen, Besuch von Bundesligaspielen etc. ist auch leicht einige Monate lang verkraftbar, wie auch, auf Home Office umzusteigen, wo immer es möglich ist. Auch Abstandsregeln  u.Ä., oder Aufrufe, Reisen, Besuche etc. auf das Nötigste zu reduzieren, sind sicherlich hilfreich.

Fraglich ist jedoch, ob es sinnvoll ist, darüber hinaus das gesamte öffentliche Leben zum Stillstand zu bringen, indem die größten Einschränkungen von Grundrechten in der Geschichte der BRD vorgenommen werden. Freizügigkeit, Reisefreiheit, Religionsausübung, Persönlichkeitsentfaltung und vieles mehr werden heftig beschnitten, ohne dass die drastischen Maßnahmen ‒ von der Schließung von Einrichtungen und Restaurants bis zu generellen Versammlungsverboten und Ausgangsbeschränkungen ‒ mit fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über ihre Wirksamkeit begründet werden können.

Auch eine Abschätzung ihrer humanitären Folgen ist bisher nicht erfolgt. Dabei werden viele der Maßnahmen werden sicherlich auch Menschenleben kosten, sei es, da Armut die Lebenserwartung drastisch senkt, durch den Absturz vieler prekär Beschäftigter in existenzielle Nöte (s. z.B. den jW-Artikel Verelendung im Eiltempo) oder durch die Ausbreitung von Depressionen, Selbstmorden und häuslicher Gewalt.

Wie es scheint, ist es für die meisten Regierungen, unabhängig ihres Charakters einfacher auf populistische Weise Verbote, Beschränkungen etc. zu verordnen, als gezieltere, aufwändigere Maßnahmen zu organisieren und diese sorgfältig durch Studien zu evaluieren zu lassen.

Wissenschaftler, wie der bekannte Epidemiologe John Ioannidis, fragen zu Recht „Wie können politische Entscheidungsträger feststellen, ob sie mehr Gutes als Schaden anrichten?“ (In the coronavirus pandemic, we’re making decisions without reliable data).
Nobelpreisträger Michael Levitt befürchtet, dass die Maßnahmen, die große Teile der Wirtschaft stillgelegt haben, ihre eigene Gesundheitskatastrophe verursachen könnten, da verlorene Arbeitsplätze zu Armut und Hoffnungslosigkeit führen (Los Angeles Times, 23.3.2020). Epidemiologe Gérard Krause warnte im ZDF ebenfalls, dass sie zu mehr Toten führen könnten als das Virus selbst.
Ähnlich kritisch bis ablehnend äußerten sich u.a. auch Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery, der Virologe Hendrik Streeck, Prof. Dr. Stefan Hockertz und der Epidemiologe der Charité Stefan Willich

Bekanntlich sind sich die Experten über die Notwendigkeit der fraglichen Maßnahmen jedoch nicht einig und gibt es viele befürwortende Stimmen, die letztlich auch die öffentliche Meinung dominieren. Sicher ist aber, dass die zusätzlichen Beschränkungen im Zuge des flächendeckenden „Lockdowns“ deutlich weniger wirksam sind als die zuvor genannten Maßnahmen, aber wesentlich größere wirtschaftliche, soziale und politische Kollateralschäden verursachen. Auch der Nutzen von Schulschließungen ist Studien zufolge fraglich.
Hinweise auf die eingeschränkte Wirksamkeit flächendeckender Beschränkungen liefert u.a. eine Abschätzung

Hinweise auf die eingeschränkte Wirksamkeit flächendeckender Beschränkungen liefert u.a. eine Abschätzung, die vor kurzem das britische „Imperial College COVID-19 Response Team“ durchgeführt hat (Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand.)  Strengere „Soziale Distanzierung“ haben in ihren Simulationen demnach so gut wie keinen zusätzlichen Effekt und Schulschließung nur einen relativen geringen, gegenüber den gezielten Maßnahmen (Isolierung Infizierter, Quarantäne betroffener Haushalte und Reduktion von Kontakten von gefährdeten Personen).
Als besonders wirksam, mit Blick auf die Zahl derer die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, erweist sich hier die Kontaktreduktion von Risikogruppen (geschätzt mit Reduktion von Arbeitsplatzkontakten um 50%, andere um 75%, bei einer 75%igen Einhaltung).

Auch Wissenschaftler des Robert-Koch-Instituts (RKI) haben mit ähnlichen Modellen für verschiedene Szenarien möglicher Ausbreitungsstärken, Immunisierung und saisonaler Einflüsse sowie verschiedener Eindämmungsmaßnahmen die Ausbreitungskurven geschätzt. Als Maßnahmen wurde nur unterschiedlich konsequent durchgesetzte Isolation von Erkrankten und Quarantäne für deren Kontaktpersonen simuliert. Demnach wäre unter den ungünstigsten Umständen „eine Isolation von 70 % oder mehr der Erkrankten bei gleichzeitiger erfolgreicher Quarantänisierung von 60 % der bereits angesteckten engen Kontakte erforderlich“, was als durchaus machbar erscheint. (Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland, 20.3.2020)

Das Imperial College prognostiziert auch, dass bei einer Aufhebung der derzeitigen Maßnahmen nach fünf Monaten eine zweite massive Erkrankungswelle im Spätherbst erfolgen werde, die umso stärker ausgeprägt wäre, je stärker man die Ausbreitung zuvor unterdrücken konnte, da dadurch auch nur ein geringer Teil der Bevölkerung immunisiert wird.

Coronavirus gefährlicher als Grippe, aber kein „Killer“

Mittlerweile gab es bzgl. der Gefährlichkeit des Virus etwas Entwarnung. Je mehr getestet wird und je größer der Prozentsatz der Infizierten wird, die man auch registriert, desto günstiger werden die Prognosen.

So liegt die Zahl derer, die schwer erkranken und ins Krankenhaus müssen, nicht bei 10% sondern eher bei 5%. In Deutschland wo, relativ gesehen, viel getestet wird, liegt sie aktuell (30.3.2020) bei 3%, in China und Südkorea bei 1% ( s. https://www.worldometers.info/coronavirus/#countries). Das RKI schätzt, dass 4,5% aller Infizierten in Krankenhaus müssen, davon jeder Vierte (d.h. 1,1% aller Fälle) auf die Intensivstation. Das Imperial College in London geht davon aus, dass 1,5% aller Infizierten, intensivmedizinisch behandelt werden müssen (Corona-Entwicklung: Warum Vorhersagen schwierig sind, Tagesschau, 26.03.2020). Sofern die Zahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten nicht erheblich erhöht wird, würden unsere Krankenhäuser somit ab einer Million Covid-19-Fälle an ihre Grenzen stoßen, genauer ab einer Million identifizierter Fälle, da offensichtlich viele gar nicht erfasst werden (siehe weiter unten).

Auch die Sterblichkeit, genauer der Anteil der Infizierten, der an Cocid-19 stirbt („Case Fatality Rate“, CFR), ist wohl wesentlich geringer, als zunächst aufgrund der ersten Zahlen aus Wuhan angenommen. Statt 3-4 pro Hundert sterben, eher 3-5 pro Tausend, also etwa so viele, wie in harten Jahren an Influenza sterben (was natürlich durchaus nicht wenig ist. Das RKI errechnete für die Jahre 2017/18 eine CFR von 0,5%  und für 2018/19 von 0,4%. (s. auch Charité-Experte Stefan Willich )

Genaueres kann man noch nicht sagen, da zum einen viele Infizierte gar nicht registriert werden, weil sie nicht oder nur leicht erkranken. Studien zufolge kommen eventuell auf jeden bestätigten Corona-Fall 5-10 unentdeckte Fälle (Heimliche Ausbreitung: Auf jeden bestätigten Corona-Fall kommen bis zu zehn unentdeckte, SPIEGEL,18.03.2020 u.  COVID-19: Wo ist die Evidenz?, Stellungnahme des Netzwerkes „Evidenzbasierte Medizin“ EbM  vom 20.03.2020).

Zum anderen werden viele Tote, da infiziert, als Corona-Tote gezählt, obwohl der Virus nicht die primäre Todesursache war. (Das gilt besonders für Italien, da hier im wesentlich nur schon bereits Erkrankte getestet werden und bei den Toten alle gezählt werden, bei denen der Virus gefunden wurde, obwohl die meisten 2 und mehr andere schwere Krankheiten hatten.)

Bei der Schätzung der jährlichen Zahl von Grippe-Toten wird daher nicht die CRF genommen, sondern am Ende statistisch abgeschätzt, wie viele Menschen in einer Grippesaison mehr gestorben sind als aufgrund der normalen Sterblichkeit zu erwarten gewesen wäre, d.h. die sogenannte Exzessmortalität: 2017/18 waren das ca. 25.000 bei ca. 5 Millionen Infizierten. (RKI Saisonbericht 2018/2019) Es starben also, ohne dass es größere Wellen in der Öffentlichkeit geschlagen hätte, im Schnitt über 200 pro Tag an Grippe. Außerhalb der Grippesaison sterben in Deutschland ca. 2.500 Personen pro Tag.
Es gab andererseits jedoch auch keine Meldungen, dass unser Gesundheitssystem überlastet gewesen war, obwohl sicherlich die meisten der 25.000 Grippe-Toten vor ihrem Tod stationär oder gar intensivmedizinisch behandelt wurden, neben einer vermutlich größeren Zahl, die wieder gesund wurden. In diesem, recht milden Winter wurden bisher 23.646 Fälle wegen nachgewiesener Influenza im Krankenhaus behandelt. (COVID-19: Wo ist die Evidenz?)

Die Covid-19-Erkrankungen, breiten sich wohl auch nicht ganz so schnell aus, wie befürchtet. Das Risiko, dass Infizierte, die (noch) keine Symptome haben, andere anstecken, ist laut WHO gering. (Der prominente und einflussreiche Virologe Christian Drosten und sein Team hatte die Welt mit der gegenteiligen Behauptung alarmiert. Diese erwies sich jedoch als falsch.) 
Das Imperial College geht davon aus, dass ein Infizierter 12 Stunden vor den ersten Symptomen beginnt, ansteckend zu werden und bis 5 Tage danach ansteckend bleibt, das RKI von 1-2 Tage vor Ausbruch der Krankheit bis 8 Tagen danach.
Das Corona Virus ist aber wahrscheinlich ansteckender als die Influenza, nicht zuletzt da es ein neuartiges Virus ist, für das noch niemand Immunität entwickeln konnte und gegen das auch noch kein immunologisches Gedächtnis wirksam wird. Vor allem aber gibt es noch keinen Impfstoff, mit dessen Hilfe man die Ausbreitung bremsen und gefährdete Personen schützen kann. Die Ansteckung wird wahrscheinlich auch kaum vom wärmeren Wetter gebremst. Dennoch ist das „SARS-CoV-2“ kein Killervirus, wie z.B. Ebola.

Im Unterschied zur Grippe sind bei Covid-19 in erster Linie ältere, vor allem hochbetagte Menschen mit Vorerkrankungen im Bereich Herz-Kreis-Lauf und Lunge gefährdet. Dies ermöglich ein gezielter Schutz der Risikogruppen.

Gezieltere Maßnahmen

Das spricht alles auch für eine differenziertere Herangehensweise.

Ein zeitweiliger drastischer  „Lockdown“  kann in besonders heftig betroffenen Gebieten, wie Wuhan, Bergamo oder Elsass, durchaus sinnvoll sein. Eine flächendeckende Stilllegung eines Landes durch Ausgangsbeschränkungen, Schul- und Firmenschließungen etc. erscheint jedoch unverhältnismäßig. Vor allem lassen sie sich kaum solange aufrechterhalten, bis die Situation sich entspannt, was vermutlich erst mit der Verfügbarkeit von Impfstoffen der Fall ist. Experten zufolge, die die Regierung beraten, wie Christian Drosten, müssen wir davon ausgehen, „dass wir vielleicht ein Jahr im gesellschaftlichen Ausnahmezustand verbringen müssen.“ (Die ZEIT, 20.3.2020)

Statt die Ansteckungskurve noch ein wenig zu drücken, um die Zahl der schwer Erkrankten unter der Kapazitätsgrenze zu halten, sollte ein guter Teil der zur wirtschaftlichen Abfederung des Lockdowns bereitgestellten Mittel, auch in die Anhebung dieser Grenze investiert werden, d.h. parallel zu „Flattening the Curve“ auch „Raising the Line“.

Wie viel oder wenig der komplette „Lockdown“ brachte, wird man später kaum mehr ermitteln können.

Wir können aber jetzt schon Vergleiche ziehen, zu Ländern, die anders vorgehen und deren Gesundheitssystem mit unserem vergleichbar ist. Das sind Schweden und die Niederlande, die traditionell weniger anfällig für autoritäre Politik sind.

Beispiel Schweden und Niederlande

Schweden hat natürlich ebenfalls Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen getroffen, aber wesentlich moderatere. Die Regierung setzt statt auf Verordnungen in erster Linie auf die Vernunft ihrer Bürger, die aufgefordert wurden, Kontakte einzuschränken und vor allem zuhause zu bleiben, wenn man sich krank fühlt. Veranstaltungen mit bis zu 500 Menschen sind nach wie vor erlaubt und Kindergärten und Schulen bis einschließlich zur neunten Klasse geöffnet, Restaurants und Sportstätten ebenfalls. (Parallel dazu werden Notfallkliniken mit Intensivbetten aufgebaut.) Die schwedische Gesundheitsbehörde hält beispielsweise Schulschließungen für kontraproduktiv: „Die positiven Effekte einer Schließung wären vernachlässigbar“. Würden Schulen und Kindergärten geschlossen, könne aber Personal im Gesundheitssektor ausfallen, weil es sich um die Kinderbetreuung kümmern müsse. Während in den Nachbarländern Dänemark und Norwegen, die Regierungen sich bei ihren Verordnungen über die mäßigenden Ratschläge ihrer Gesundheitsbehörde hinwegsetzten, blieb sie in Schweden federführend.

Die moderate Linie ist natürlich im Land nicht unumstritten. Auch hier gibt es Experten die ein strengeres Vorgehen fordern. Noch stärker ist der Druck aus dem Ausland. Doch Johan Giesecke, Schwedens ehemaliger Chef-Epidemiologe und derzeitiger Berater der WHO, hält die Maßnahmen der Gesundheitsbehörde, die er einst leitete, eher für zu drastisch als zu nachsichtig. „Das Verbot von öffentlichen Versammlungen ist eine idiotische Idee“, so Giesecke, „und wenn man sich nicht krank fühlt, sollte man zur Arbeit oder zur Schule gehen. Es gibt keinen Grund, warum Menschen, die sich gut fühlen, zu Hause bleiben sollten, und es gibt keinen Beweis dafür, dass die Schließung von Landesgrenzen oder Restaurants die Verbreitung von Viren verringert.“ (Sweden Is Open for Business During Its Coronavirus Outbreak, Foreign Policy, 24.3.2020)

Auch die Niederlande gehen weniger strikt vor, ohne Ausgangssperren oder umfassenden Kontaktverbote wie in Deutschland. Zwar sind Schulen und Restaurants geschlossen. Läden, Spielplätze, Stränden, Parks oder Wochenmärkte bleiben bisher aber offen und werden auch genutzt, wenn auch deutlich weniger als sonst.

Trotz weniger drastischer Maßnahmen, nehmen die Zahlen der Ausbreitung in beiden Ländern nicht stärker zu als in Deutschland. Während die Zahl der (bekannten) Infizierten in Deutschland in den letzten 14 Tagen (18. März – 1. April) von 12.300 auf 78.000 um den Faktor 6,3 anstieg, stieg er in Schweden nur um den Faktor 6,3 (von 1300 auf 4.950) und in den Niederlanden um den Faktor 6,6 (2050 auf 13.600). Im Vergleich zur Vorwoche, d.h. dem 25.3., erhöhten sich die Zahlen in Deutschland und den Niederlanden um das 2,1fache und in Schweden um das 2,0fache. Da die Zahlen der registrierten Fälle auch stark von der Menge der durchgeführten Tests abhängt, können sie nicht als zuverlässiges Maß für die Zunahme der Ausbreitung genommen werden, zeigen jedoch, dass Schweden keinen signifikant höheren Zuwachs hat.

Vorbild Südkorea

Noch besser steht Südkorea da, wo die Zahl der Infizierten seit 3 Wochen nur noch linear ansteigt.

Es würde daher nahe liegen, dem Beispiel Südkoreas zu folgen. Dort gab und gibt es keine drastische generelle Kontaktbeschränkungen. Schulen, Unis, Bars Restaurants blieben offen. Nur Veranstaltungen mit mehr als 250 Teilnehmern sind untersagt und älteren Menschen wurde eine Einschränkung ihrer Kontakte verordnet. Statt eines flächendeckenden „Shut downs“ wurde sehr gezielt gegen die Ausbreitung vorgegangen. So bemühte man sich, alle Kontakte von Infizierten zu ermitteln und stellt diese, neben seinem direkten Umfeld, ebenfalls unter Quarantäne. Zudem wurden auch betroffene Schulklassen, Firmen etc. zeitweise geschlossen und besonders betroffen Stadtteile unter Quarantäne gestellt.
Das ist natürlich viel aufwendiger, da viel mehr getestet und Kontaktketten nachrecherchiert werden müssen. Die allgemeinen gesellschaftlichen Kosten werden aber am Ende wesentlich geringer sein.

Vor allem kann man dies auch ein Jahr lang oder länger durchhalten. Die bei uns getroffenen Maßnahmen nicht.

Flächendeckende Corona-Tests wie in Südkorea seien in Deutschland undurchführbar, meint Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. „Dafür haben wir zu wenig Laborkapazität und zu wenig Personal.“ Das sei in den vergangenen Jahren ziemlich zusammengespart worden – die Zahl der Amtsärzte um rund ein Drittel in den vergangenen 18 Jahren. In Berlin sei zudem jede vierte Amtsarztstelle unbesetzt.

Doch Bund und Länder streben Berichten zufolge nun jedoch eine Ausweitung der Testkapazitäten an.

Genauere Informationen durch repräsentative Studien

Natürlich sind die Bedingungen in jedem Land anders. Um einschätzen zu können, wie wirksam Maßnahmen bei uns sein können, bräuchte man genauere Informationen. Diese könnte man durch größere Studien bekommen, indem man z.B. 20.000  repräsentativ ausgewählte Personen oder Haushalte auf das Coronavirus und sonstige Erkrankungen testet und das regelmäßig, z.B. 14-tägig, wiederholt. Dann könnte man einigermaßen abschätzen, wie viele Menschen tatsächlich infiziert sind, wie viel davon wie schwer erkrankten und wie viele sterben. Durch begleitende Befragung würde man auch Hinweise auf die häufigsten Wege der Ansteckung finden.

Der Virologe Hendrik Streeck von der Uniklinik Bonn führt derzeit eine repräsentative Untersuchung im Kreis Heinsberg durch, einem der Epizentren des Coronavirus. Nach ersten Tests bei hochinfektiösen Personen, sind Schmierinfektionen selten, die Gefahr, jemanden anderen beim Einkaufen zu infizieren, gering. Die Leute hätten sich nicht im Supermarkt, im Restaurant, beim Metzger oder beim Friseur angesteckt,, sondern auf den Partys beim Aprés Ski in Ischgl, im Berliner Club ,Trompete‘, beim Karneval und bei großen Fußballspielen. Eine Hauptursache für die Infektionen, so Streeck, sei ein enges Beieinandersein über einen längeren Zeitraum.

An sich sollte es angesichts der drastischen Maßnahmen, die derart Grundrechte einschränken oder außer Kraft setzen und viele Menschen in existenzielle Not bringen, eine Selbstverständlichkeit sein, dass sowohl deren Wirksamkeit wie auch ihre Folgen begleitend durch entsprechende Studien untersucht werden. Dies wird u.a. auch vom SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und den Grünen gefordert. Doch wie Anfragen der Taz beim Bundesgesundheitsministerium (BMG) und beim Bundesforschungsministerium (BMBF) ergaben, ist „eine begleitende wissenschaftliche Forschung, die die Effektivität der Maßnahmen evaluieren und ins Verhältnis zu ihren unerwünschten sozialen, wirtschaftlichen oder psychischen Nebenwirkungen setzen könnte“ , bisher nicht vorgesehen. (Upd: s. dazu auch Jens Berger, Maximale Maßnahmen auf Basis minimaler Gewissheit, Nachdenkseiten 31.3.2020)

Mittlerweile gibt es auch eine Online-Petition, die eine solche Studie fordert: Führen Sie die Baseline Studie durch – wir brauchen endlich saubere Corona-Daten

Tabelle mit einem Vergleich getroffener Maßnahmen

Hier ein interessanter Vergleich von Maßnahmen verschiedener Länder (aus einem ansonsten etwas zu alarmistischen Artikel: Coronavirus: Der Hammer und der Tanz )


Quelle: Matt Bell, Elena Baillie, Genevieve Gee, Tomas Pueyo

Updates:

Große Antikörperstudie

Das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig bereitet nun unter Leitung des Epidemiologen Gérard Krause eine große Antikörperstudie vor, um mehr über das Coronavirus herauszufinden

Es gehe für ihn dabei, so Krause, nicht allein nur um den Virus. „Ich mache mir auch sehr große Sorgen, dass die derzeitigen Maßnahmen schlimmere Folgen haben können für die Gesellschaft als das Virus selbst. Auch Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg können die Entwicklung von Krankheiten fördern ­- oder gar Menschen in den Suizid treiben.“ (Epidemiologe über Covid-19: „Die Maßnahmen dürfen nicht schlimmer sein als die Krankheit“ , DER SPIEGEL, 27.03.2020)

Bundesinnenministerium will sich am Vorbild Südkoreas orientieren

Einem vertraulichen Strategiepapier des Innenministeriums zufolge, soll sich Deutschland im Kampf gegen das Coronavirus zukünftig am Vorbild Südkoreas orientieren.  Die größtmögliche Erhöhung der Testkapazitäten in Deutschland sei deshalb „überfällig“, heißt es nach Informationen von WDR, NDR und „Süddeutscher Zeitung“ in dem Papier mit dem Titel „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“.

Statt weiter das öffentliche Leben zum Stillstand bringen, soll das Testen und Isolieren der infizierten Personen die zentrale Maßnahme sein. Um die Suche nach Kontakten von positiv getesteten Personen zu erleichtern, sollten längerfristig computergestützte Lösungen und sogar das „Location Tracking“ von Mobiltelefonen zum Einsatz kommen. Alle positiv Getesteten müssten isoliert werden, zu Hause oder in einer Quarantäne-Anlage. Sobald diese Verfahren einmal eingespielt seien, „können sie relativ kostengünstig über mehrere Jahre hinaus die wahrscheinlich immer wieder aufflackernden kleinen Ausbrüche sofort eindämmen“, heißt es in dem Papier.
(Corona-Strategiepapier: Mit effizientem Testen zum „Best Case“ , Tagesschau:  27.03.2020


Quellen, Stellungnahmen …:

COVID-19: Wo ist die Evidenz? – Netzwerk „Evidenzbasierte Medizin“
Stellungnahme des Netzwerkes „Evidenzbasierte Medizin“ (EbM) vom 20.03.2020 (aktualisiert am 23.03.2020)

Epidemiologe warnt vor noch schärferen Maßnahmen:  „Gibt keinen Grund, das ganze Land in häusliche Quarantäne zu schicken“
Charité-Experte Stefan Willich hält Ausgangssperren für falsch. Auch die gesundheitlichen Kosten der Isolation können enorm sein,
Interview mit Stefan Willich, dem Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité
Tagesspiegel, 24.3.2020
So ist noch nicht genau abzusehen, wie viele der Infizierten in Deutschland stationär behandlungsbedürftig sind – die aktuellen Zahlen deuten auf zirka fünf Prozent – und wie viele sogar intensivmedizinische Versorgung benötigen, aktuelle Schätzungen liegen bei einem Prozent.
Die Dunkelziffer der tatsächlich Infizierten dürfte in Deutschland wie auch in anderen Ländern sehr hoch sein.
… Gemessen an der Letalität, also der Anzahl der Fälle, die zum Tode führen, liegt sie etwas über der Influenza-Grippe: In Deutschland sterben nach aktuellen Trends zirka 0,3 bis 0,4 Prozent aller infizierten Patienten. SARS oder gar Ebola bewegen sich in völlig anderen Dimensionen.

Virologe äußert erstmals Zweifel: Haben Restaurants und Friseure umsonst dicht gemacht?, Express, 01.04.2020
Der Virologe Hendrik Streeck von der Uniklinik Bonn führt derzeit eine einzigartige Untersuchung im Kreis Heinsberg durch – dem Epizentrum des Coronavirus. Dort erhebt der Experte in einer repräsentativen Stichprobe sowohl die Zahl der Infizierten als auch die Infektionswege.

Interview mit Weltärztepräsident Montgomery: „Pandemie ist Chaos“
General Anzeiger, 18.3,2020
„Ich bin kein Freund des Lockdown. Wer so etwas verhängt, muss auch sagen, wann und wie er es wieder aufhebt. …  Man kann doch nicht Schulen und Kitas bis Jahresende geschlossen halten. Denn so lange wird es mindestens dauern, bis wir über einen Impfstoff verfügen. Italien hat einen Lockdown verhängt und hat einen gegenteiligen Effekt erzielt. Die waren ganz schnell an ihren Kapazitätsgrenzen, haben aber die Virusausbreitung innerhalb des Lockdowns überhaupt nicht verlangsamt.

Prof. John Ioannidis, In the coronavirus pandemic, we’re making decisions without reliable data, STAT, 17.3.2020

Offener Brief von Professor Sucharit Bhakdi an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Kiel, den 26. März 2020
Dr. Sucharit Bhakdi, emeritierter Professor für Medizinische Mikrobiologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz fordert eine dringende Neubewertung der Reaktion auf Covid-19 und stellt der Kanzlerin fünf entscheidende Fragen.

Epidemiologe über Covid-19: „Die Maßnahmen dürfen nicht schlimmer sein als die Krankheit“
Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig bereitet eine große Antikörperstudie vor, um mehr über das Coronavirus herauszufinden. Hier erklärt er, worum es dabei geht.
DER SPIEGEL, 27.03.2020,

Virologe Hendrik Streeck: „Wir haben neue Symptome entdeckt“
FAZ, 16.03.2020
Der neue Erreger ist gar nicht so gefährlich, er ist sogar weniger gefährlich als Sars-1. Das Besondere ist, dass Sars-CoV-2 im oberen Rachenbereich repliziert und damit sehr viel infektiöser ist, weil das Virus sozusagen von Rachen zu Rachen springt. Genau das hat aber auch einen Vorteil: Denn Sars-1 repliziert zwar in der tiefen Lunge, ist damit nicht so infektiös, geht aber in jedem Fall auf die Lunge, was es gefährlicher macht.

Why this Nobel laureate predicts a quicker coronavirus recovery: ‘We’re going to be fine’
Los Angeles Times, 23.3.2020
Michael Levitt, der bereits im Februar erstaunlich genau den Höhepunkt der Epidemie in China vorhersagte und Covid-19 als nur etwas gefährlicher als Grippe einschätzt, befürchtet, dass die Maßnahmen, die große Teile der Wirtschaft stillgelegt haben befürchtet, dass die Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, die große Teile der Wirtschaft stillgelegt haben, ihre eigene gesundheitliche Katastrophe verursachen könnten, da verlorene Arbeitsplätze zu Armut und Hoffnungslosigkeit führen.

Eine Sammlung weiterer kritischer Äußerungen bekannter internationaler Fachleute gegen überzogene Maßnahmen hat Off-guardian am 24.3.2020 und  28.3.2020  veröffentlicht.

Gesundheitsstatistiker Gerd Bosbach zur Corona-Debatte, NachDenkSeiten, 26. März 2020

Heribert Prantl, Zwangspause für eine erschöpfte Gesellschaft, Südt. Zeitung, 15.3.2020

Susan Bonath, Im Panikmodus in die Diktatur, Rubikon, 27.3.2020
Bis zu zwei Millionen Soloselbständige und Kleinstunternehmer stehen vor dem existenziellen Nichts. ,Die Ärmsten in existenzieller Not

Prof. Dr. Stefan Hockertz, Das Virus macht uns nicht krank… …die Angst davor schon!

Virologin Mölling warnt vor Panikmache, Radio Eins, 14.03.2020

Gabriele Muthesius, Die Coronakrise –Aspekte abseits des Mainstreams, NachDenkSeiten, 22.März 2020

Christian Drosten: „Wir müssen jetzt die Fälle senken. Sonst schaffen wir es nicht“
Der Virologe Christian Drosten leitet Deutschland durch die Pandemie. Ein Gespräch über Ausgangssperren, die Dauer der Krise – und wie sie unser Leben verändert.
Die ZEIT, 20.3.2020
Drosten: Wir müssen vielleicht davon ausgehen, dass wir gesellschaftlich ein Jahr im Ausnahmezustand verbringen müssen

Sweden Is Open for Business During Its Coronavirus Outbreak, Foreign Policy, 24.3.2020

Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand
Imperial College COVID-19 Response Team, 16 March 2020

Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland, RKI, 20.3.2020

Cruise ship outbreak helps pin down how deadly the new coronavirus is, 12.3.2020

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