Kategorie: Nordafrika

Krieg gegen Libyen: Stand die NATO vor dem Scheitern?

Krieg gegen Libyen: Ein Rückblick
NATO intensiviert Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung –
Von JOACHIM GUILLIARD
Hintergrund 3/2011 24. August 2011
(Auf der Homepage ist dem Artikel ein kurzer Überblick und eine Bewertung der plötzlichen Wende vorangestellt. Dies findet sich ausführlicher und gründlicher recherchiert in meinem Beitrag „Der Fall von Tripolis“ )

Die Berichte aus Istanbul über die Beratungen der Kontaktgruppe der NATO hat eine surreale Qualität, wenn Außenministerin Hillary Clinton und der britische Außenminister William Hague ernsthaft wieder ihre Entschlossenheit zum Regime Change und der Stärkung der Verbindungen zum Übergangsrat in Bengasi betonen, während die Demütigung der gesamten NATO-Expedition gerade Eintritt in die Geschichtsbücher hält, als eine Ankündigung [advertisement] der Gefahren von politischer Fantasy im Dienste „humanitärem Interventionismus“, mieser Geheimdienstarbeit, Illusionen über die Macht von Bomben und Luftwaffen und einer der schlimmsten Presseberichterstattungen seit Menschengedenken.
Alexander Cockburn, NATO’s debacle in Libya, CounterPunch , 15.7.2011

Seit fünf Monaten führen die NATO und ihre libyschen Verbündeten Krieg. Doch obwohl die Aufständischen militärische, finanzielle und politische Unterstützung in einem Ausmaß erhielten, wie kaum eine oppositionelle Bewegung zuvor, kamen diese dem gemeinsamen Ziel, die Regierung zu stürzen, bis vor Kurzem keinen Schritt näher.
Lange trotzte das schlecht gerüstete Land mit nur 6,5 Millionen Einwohnern den Angriffen des mächtigsten Militärbündnisses der Welt. Trotz politischer Rückendeckung durch UNO und Internationalen Strafgerichtshof wird der Krieg vom überwiegenden Teil der Welt als neokoloniale Intervention verurteilt.
Während die Front der Rebellen bröckelte, demonstrierte eine wachsende Zahl von Libyern ihre Unterstützung für die Regierung. Angesichts ausbleibender Erfolge zeigte auch die Kriegsallianz immer größere Risse und die Regierungschefs suchen fieberhaft nach einem Ausweg.
Je deutlicher sich jedoch das Scheitern des Feldzuges abzeichnete, desto mehr wurden die täglichen Bombenangriffe auf die zivile Infrastruktur ausgeweitet – mit dem eindeutigen Ziel, Führung und Bevölkerung des Landes doch noch zermürben zu können. Woche für Woche wird so das unbotmäßige Land immer mehr in Trümmer gebombt.
Bombenterror
So erschütterten am 9. August die bis dahin schwersten Luftangriffe Tripolis. Bombeneinschläge waren, wie die Korrespondenten der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua berichteten, aus fast allen Teilen der Hauptstadt zu hören, Flammen schossen über einzelnen Vierteln in die Höhe. Gleichzeitig versuchten NATO-Kampfjets vorrückenden Rebellen den Weg zur westlibyschen Küstenstadt Sliten freizubomben. Dabei wurden im Nachbardorf Majer 85 Dorfbewohner getötet, darunter 33 Kinder und 32 Frauen. (2) Dies sind zwei vorläufige Höhepunkte des fast fünfmonatigen Bombenkrieges, in dem die Kriegsallianz bis dahin über 18.000 Einsätze flog, darunter 7.000 Bombenangriffe, fast 60 pro Tag.
In dem Maße, wie militärische Ziele ausgingen, konzentrierten sich die Angriffe auf zivile Einrichtungen. In orwellscher Manier werden auch diese Bombardierungen, die täglich neue Opfer fordern, mit der Standardphrase „Schutz der Zivilbevölkerung“ gerechtfertigt – sogar die mehrfache Bombardierung von Fernsehstationen. Diese würden für Appelle des Machthabers an seine Anhänger und für staatliche Propaganda genutzt. (3)
Bereits Ende April hatte die NATO-Führung offen angekündigt, nun auch verstärkt Regierungsgebäude, „Kommunikationseinrichtungen und andere wichtige Institutionen, die der libyschen Regierung nützen“, zu bombardieren. Diese „Verlagerung der Ziele“ geschehe in der „Absicht, die Macht von Oberst Muammar al-Gaddafi zu schwächen und seine Streitkräfte zu frustrieren“. Bombardiert wurden jedoch auch Nahrungsmitteldepots, Raffinerien, Kraftwerke, Trinkwasseranlagen und andere Einrichtungen, die der Versorgung der Bevölkerung dienen. Wie beim elfwöchigen Bombenkrieg gegen Jugoslawien sollen die massiven Zerstörungen der Infrastruktur und der Medien auch der übrigen Bevölkerung die Aussichtslosigkeit des Widerstandes demonstrieren und sie dadurch, wie die NATO-Führer andeuten, dazu bewegen, sich gegen ihre Regierung zu stellen. (4) Die Bombardierungen ziviler Ziele, mit dem Ziel, die Betroffenen politisch zu erpressen, sind eindeutige Kriegsverbrechen, ein klarer Akt von Staatsterror gegen eine weitgehend wehrlose Bevölkerung.
Ein vorrangiges Ziel ist, wie die gezielten Angriffe auf seine möglichen Aufenthaltsorte zeigen, den Revolutionsführer zu liquidieren. Die NATO habe „eine Jagd auf Gaddafi“ begonnen „mit dem Ziel, ihn zu eliminieren“, berichtete unter anderem auch der britische Nachrichtensender Sky News. Da der faktische Staatschef immer noch über erheblichen Rückhalt im Land verfügt, werde seine Beseitigung als einzige Möglichkeit angesehen, die festgefahrene Situation in Libyen aufzulösen, so die britische Tageszeitung Daily Telegraph. (5) Bei Angriffen auf Residenzen und Wohnhäuser, in denen der Oberst vermutet wurde, wurden bereits Dutzende Zivilisten getötet, darunter auch sein jüngster, politisch nicht aktiver Sohn Saif al-Arab und drei seiner Enkelkinder. (6)
Die internationale Kritik an der NATO wurde daraufhin schärfer. Die Afrikanische Union (AU) forderte die NATO eindringlich auf, Militäreinsätze gegen Mitglieder der libyschen Führung und die „sozioökonomische Infrastruktur“ Libyens zu unterlassen. (7)
Niemand hat, so auch der russische Ministerpräsident Wladimir Putin, gewissen Staaten das Recht erteilt, den libyschen Staatschef Muammar Gaddafi hinzurichten. (8) „Was ist das für eine Flugsperre, wenn jede Nacht Paläste bombardiert werden“, so Putin in einer Pressekonferenz in Kopenhagen weiter. Was bedeute das, „wenn die gesamte sogenannte zivilisierte Gemeinschaft mit ihrer gesamten Macht über ein kleines Land herfällt und seine über Generationen aufgebaute Infrastruktur zerstört“? (9)
Auch andere Sicherheitsratsmitglieder wiesen darauf hin, dass das militärische Vorgehen der NATO in keiner Weise durch die UN-Sicherheitsratsresolution 1973 gedeckt sei. Die völkerrechtlich fragwürdige Resolution, die die Veto-Mächte China und Russland aus opportunistischen Gründen passieren ließen, erlaubt zwar den interessierten Mächten ein militärisches Eingreifen, allerdings nur zur Durchsetzung eines Flugverbotes und zum Schutz der Zivilbevölkerung. Im ersten und damit zentralen Artikel fordert sie einen sofortigen Waffenstillstand und „einen Dialog über die für eine friedliche und dauerhafte Übereinkunft notwendigen Reformen“. Genau das also, was die Kriegsallianz seither mit allen Mitteln verhindert. Nachdem sie den Vormarsch der Regierungstruppen gestoppt hatten, hätten die selbst ernannten Schutzmächte der libyschen Zivilbevölkerung nach dem Wortlaut der Resolution nun die Rebellen gleichfalls daran hintern müssen, militärisch einzugreifen. Doch wie zu erwarten, missbraucht die Kriegsallianz – gedeckt durch die westlichen Medien – die Resolution als Blankoscheck für einen umfassenden Luftkrieg zur Zerstörung der militärischen Verteidigungskapazitäten und wirtschaftliche Ressourcen Libyens. Von Beginn an versuchte sie, durch Angriffe auf Regierungstruppen den Rebellen den Weg zur Hauptstadt freizubomben.
Militärisches Patt
Obwohl die NATO nach eigenen Angaben schon in den ersten sechs Wochen rund 40 Prozent der militärischen Kapazität Libyens zerstört hatte und die Aufständischen in großem Stil militärische Unterstützung, Geld und Waffen erhielten, kamen sie nicht nennenswert voran. Ungeachtet der häufigen Erfolgsmeldungen über ein Vorrücken der Rebellenmilizen hatte die libysche Regierung nach wie vor die Hauptstadt und über die Hälfte des Landes mit mehr als Dreiviertel der Bevölkerung fest unter ihre Kontrolle. (10)
Wie zuvor in Afghanistan und Irak wurden die eroberungshungrigen imperialistischen Führer Opfer von Größenwahn und Ignoranz. Wieder einmal prophezeiten ihre Geheimdienste – gestützt auf die Informationen einheimischer Kollaborateure – einen schnellen Sieg. So hatte (wie Le Nouvel Observateur im Juli enthüllte) die französische DGSE (Direction Générale de la Sécurité Extérieure) ihrem Premier Sarkozy versichert, dass sich „mit den ersten Luftangriffen Tausende Soldaten von Gaddafi abwenden würden“, die Rebellen rasch bis nach Sirte, der Heimatstadt Gaddafis durchmarschieren und diesen zur Flucht aus dem Land zwingen würden.
„Wir unterschätzen Gaddafi”, gestand nun ein französischer Offizier ein. „Er hat sich seit 41 Jahren auf eine Invasion vorbereitet. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass er sich so schnell anpassen könnte. Niemand erwartete zum Beispiel, dass Gaddafi hingehen und zum Transport seiner Truppen und Raketenwerfer Hunderte Pick-ups in Niger und Mali kaufen würde.“ Es sei ein „Geniestreich“, da die Lastwagen identisch mit denen der Rebellen sind und sie so große Schwierigkeiten hätten, die richtigen Ziele zu identifizieren. Er vergaß dabei zu erwähnen, dass die Taktik, mit unauffälligen, aber auch ungepanzerten Fahrzeugen zu operieren, nur aufgehen kann, weil sich die Regierungstruppen im Westen gefahrlos in den Städten bewegen können.
Das Fell des Bären
Den mangelnden Fortschritt vor Ort versucht die Kriegsallianz, durch umso forscheres Theater auf dem diplomatischen Parkett wettzumachen. Bei einem Treffen der sogenannten Libyen-Kontaktgruppe (LKG) Mitte Juli in Istanbul versicherte sie erneut ihre Entschlossenheit, das Regime in Tripolis zu stürzen, und erkannte den Nationalen Übergangsrat in Bengasi als einzige legitime Vertretung des gesamten Landes an.
„Die Führer der Welt“ seien zu Gesprächen über Libyens Zukunft zusammengekommen, überschrieben führende westliche Medien das Meeting. Tatsächlich besteht das selbst ernannte Gremium nur aus den NATO-Ländern und ihren Verbündeten. Weder Russland noch China oder die übrigen BRICS-Staaten, Brasilien, Indien und Südafrika, hatten Vertreter nach Istanbul gesandt. Das Gremium dient ihrer Ansicht nach nur den Krieg führenden Mächten dazu, allein über die Umsetzung der UN-Resolution 1973 zu bestimmen und den UN-Sicherheitsrat aus der weiteren Debatte über Libyen herauszuhalten. Offensichtlich diente das Istanbuler Treffen auch dazu, allen Vermittlungsbemühungen Dritter, insbesondere der Afrikanischen Union, den Boden zu entziehen. An der UNO-Institution vorbei bestimmte die „Kontaktgruppe“ den Sondergesandten der UNO, Abdul Elah al-Khatib, zum alleinigen Verhandlungsberechtigten. Nicht Muammar al-Gaddafi habe ein Legitimitätsproblem, sondern die LKG, erklärte treffend der russische Außenminister Sergey Lavrov schon im Mai. „Aus Sicht des internationalen Rechts hat diese Gruppe keinerlei Legitimität.“ (11)
In Zusammenhang mit der Anerkennung des Übergangsrates wurde auch über Maßnahmen beraten, mit denen man den Rebellen einige Milliarden US-Dollar vom eingefrorenen libyschen Auslandsvermögen zukommen lassen könnte. Die Idee, das angegriffene Land selbst an den Kosten des Krieges zu beteiligen, ist natürlich verlockend. Doch solange dies kein UN-Sicherheitsratsbeschluss absegnet, sind die rechtlichen Hürden dafür noch zu hoch. Nun sollen die festgesetzten Gelder nur als Sicherheit für Kredite in Milliardenhöhe dienen. Doch auch so wird das Fell des Bären verteilt, bevor er erlegt wurde.
Dasselbe gilt auch für einen 70-seitigen Arbeitsplan für die Zeit „nach Gaddafi“, den die Aufständischen – der britischen Tageszeitung The Times zufolge – zusammen mit der Kriegsallianz ausgearbeitet haben. Neben detaillierten Vorgaben für die Übernahme von Schlüsselbereichen des Sicherheitssystems, der Telekommunikation, Elektrizität etc. sieht dieser auch die Besetzung der Hauptstadt Tripolis durch 10.000 bis 15.000 Mann starke, von den Vereinigten Arabischen Emiraten ausgerüstete Einsatzkräfte, die „Tripoli Task-Force“, vor. (12)
Zweifel an Rebellen
Unterdessen wächst auch in der NATO der Zweifel an ihren Verbündeten. Gebeutelt durch innere Kämpfe und unterminiert durch das rücksichtslose und undisziplinierte Verhalten ihrer Milizen scheine der Aufstand gegen Oberst Gaddafi in einen trüben Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Fraktionen und Stämmen überzugehen, schrieb am 13. August die New York Times.
Bereits zu Beginn des Aufstandes hatten sich Berichte über brutale Angriffe von Rebellen auf schwarzafrikanische Fremdarbeiter gehäuft. (13) Als Vorwand für die Übergriffe dient meist der Verweis auf schwarze Söldner in den Reihen der Regierungstruppen. Ein Vorwurf, für den Amnesty International keinerlei Anhaltspunkte fand. (14) Tatsächlich waren Opfer meist einfache Arbeiter und Flüchtlinge. Aktuell sind unter anderem die Bewohner von Tawergha von Gewalt und Vertreibung durch Rebellenmilizen bedroht. Hier, 40 km südlich der unter der Kontrolle von Aufständischen stehenden Hafenstadt Misrata, wohnen, als Erbe des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert, überwiegend schwarze Libyer. (15) Die Gewalt richtet sich aber auch gegen Personen und ganze Stämme, die sich den Aufständischen nicht anschließen wollen. In Bengasi machen, wie der Daily Telegraph berichtete, jugendliche Gangs regelrecht Jagd auf alles, was in ihren Augen nach „pro Gaddafi“ riecht. Leute werden an improvisierten Checkpoints aus den Autos geschleppt und gefoltert, Dutzende ehemalige Angestellte staatlicher Stellen wurden eingesperrt oder getötet. (16) Die New York Times berichtete über eine regelrechte Welle nächtlicher Morde in Bengasi, die wie Hinrichtungen durch Todesschwadronen erscheinen. Obwohl Bengasi weit von der Front entfernt liegt, hat ein erheblicher Teil der Bevölkerung die Stadt verlassen.
Auch aus anderen von den Rebellen kontrollierten Städten kommen Meldungen über groß angelegte Razzien, Gefangennahmen, Vergewaltigungen und Exekutionen. (17) Mitarbeiter von Human Rights Watch (HRW) wurden Augenzeugen von Plünderungen, Brandstiftungen und Gewalt gegen Zivilisten während einer Offensive der Rebellen im Juni und Juli in den Nafusa-Bergen südlich von Tripolis. (18)
Innere Kämpfe
All das hat dem positiven Bild der Rebellen im Westen keinen Abbruch getan. Dies änderte sich erst, als die Ermordung des Militärchefs der Rebellen, General Abdul Fatah Yunis, schlagartig die innere Zerrissenheit der Aufständischen offenbarte. Yunis wurde am 28. Juli zusammen mit zwei weiteren Offizieren in Bengasi erschossen, nachdem er von einer Abordnung des Übergangsrates festgenommen worden war. Die genauen Umstände sind noch ungeklärt, Familienangehörige von Yunis sowie der Obeidi-Stamm, dem er angehörte, vermuten jedoch Mitglieder der Gegenregierung hinter dem Mordkomplott. Yunis, der bis Februar libyscher Innenminister war, war insbesondere bei den islamistischen Kräften innerhalb der Opposition verhasst. Wie die New York Times berichtete, sind bereits eine ganze Reihe von zu den Rebellen übergelaufenen ehemaligen Regierungsmitarbeitern unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Die Führer des Obeidi-Stammes, eines des mächtigsten Libyens, drohten mit Gewaltmaßnahmen, sollten die Umstände nicht rasch aufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden. Es kam in der Folge immer wieder zu heftigen Kämpfen zwischen verschiedenen Rebellengruppen und Stammesverbänden, zum Teil wohl auch bei Bemühungen des Übergangsrates, die unzähligen autonom agierenden Milizen endlich unter seine Kontrolle zu bringen. (19)
Ein obskures Gremium ohne Legitimation
Der „Nationale Übergangsrat“ wurde zwei Wochen vor dem Krieg im Zusammenspiel mit den NATO-Mächten geschaffen. Allein aus deren Anerkennung bezieht er bis heute seine Autorität. Das obskure Gremium repräsentiert jedoch – wenn überhaupt – nur einen kleinen Teil der Opposition. Sein Einfluss auf das lokale Geschehen geht kaum über Bengasi hinaus. (20) Die anderen aufständischen Städte haben ihre eigene Führung, und an den verschiedenen Fronten kämpfen Hunderte bewaffnete Gruppierungen mehr oder weniger auf eigene Faust. (21)
Die Rebellen von Brega zum Beispiel, die bisher vergeblich versuchten, die Kontrolle über diese Stadt zu erobern, erkennen seine Autorität nicht an. Er würde in keiner Weise Brega repräsentieren, so ihr Sprecher Mohammed Musa al-Maghrabi. „Uns erscheint der NTC wie eine ausländische Regierung, voller Nepotismus und Korruption.“ Er sei wesentlich geschickter dabei, sich Legitimation unter europäischen Regierungen zu verschaffen, als in der libyschen Bevölkerung. Die größte Rebellenmiliz, die „Märtyrerbrigade des 17. Februar“, steht in direkter Opposition zum Übergangsrat wie auch zu den diversen anderen Milizen. Schon oft kam es zwischen diesen zu bewaffneten Auseinandersetzungen.
Hinzu kommen massive Konflikte zwischen den lokal verankerten Kräften – insbesondere den islamischen – auf der einen und den liberalen, prowestlichen auf der anderen Seite. Die radikaleren islamischen Organisationen waren ohnehin stets gegen eine Intervention der NATO-Mächte gewesen. Diese Konflikte spitzten sich nach dem Mord an Yunis weiter zu. Anfang August sah sich der Übergangsrat schließlich gezwungen, seinen als Gegenregierung fungierenden, nur aus ehemaligen Regierungsmitgliedern und Exil-Libyern bestehenden Exekutivrat aufzulösen. Nur sein Chef, Mahmoud Dschibril, blieb im Amt.
Mit der Absetzung ihrer engsten Vertrauten droht den westlichen Mächten möglicherweise die Kontrolle über das Geschehen zu entgleiten. Die internen Machtkämpfe könnten die Unterstützung der NATO-Staaten für die Rebellen untergraben, die im September über eine Verlängerung entscheiden müssen, warnte daher die New York Times. Sie würden auch noch einmal genauer überlegen, ob sie tatsächlich größere Summen auf das Konto des Übergangsrates überweisen sollten. Die Kritik an den Aufständischen in westlichen Medien nahm seither deutlich zu.
Libyer vereint gegen NATO
Die NATO-Kommandeure hegten die Hoffnung auf eine glückliche Bombe, die Oberst Gaddafi „aus dem Spiel“ nimmt, setzten auf eine „Palastrevolution“ bisher Getreuer oder einen Aufstand in der Hauptstadt – beides aus der Einsicht der möglichen Akteure heraus, nur so die NATO-Angriffe stoppen zu können. Doch das Gegenteil trat ein: Unter den NATO-Bomben schienen sich immer mehr Libyer – unabhängig davon, wie sie zuvor zur Regierung und dem Revolutionsführer standen – hinter diese zu stellen. Im Vertrauen darauf wurden bereits große Mengen an AK-47-Gewehren an zivile Verteidigungskomitees verteilt.
Woche für Woche demonstrieren Hunderttausende in der Hauptstadt und zahlreichen anderen Städten gegen die NATO und für das Regime. Die bisher größte Kundgebung sahen irritierte westliche Reporter am 1. Juli in Tripolis. Die Schätzung der Teilnehmerzahl ging hier bis zu einer Million. (22) Von den westlichen Medien brachte nur der US-Sender CNN Bilder, die das Ausmaß der Demonstrationen zeigten. „Dies ist eine Massendemonstration zur Unterstützung Gaddafis“, meldete am 18. Juli ein aufgeregter CNN-Reporter aus der einst von Rebellen gehaltenen Hafenstadt Sawija. Gaddafis Rede würde die Massen geradezu elektrisieren. Die Demonstration war eine deutliche Antwort auf das gleichzeitig stattfindende Treffen der sogenannten Libyen-Kontaktgruppe in Istanbul, bei dem der Nationale Übergangsrat als alleinige Vertretung Libyens anerkannt wurde. (23)
Die NATO reagierte auf ihre Weise. Den Großdemonstrationen am Tage folgen oft verstärkte flächendeckende Bombardierungen der Städte in der Nacht. Der apostolische Vikar von Tripolis Giovanni Martinelli berichtete zudem von Bombenabwürfen in unmittelbarer Nähe von Massenkundgebungen, mit denen die Demonstranten offensichtlich von einer weiteren Teilnahme abgeschreckt werden sollten. (24)
Die Zahl der Libyer, die in den Diensten des Staates stehen oder anderweitig vom Regime profitieren würden, sei recht groß, versuchten die westlichen Medien die Pro-Gaddafi- und Anti-NATO-Demonstrationen, die die gesamte NATO-Propaganda vom Kampf „des gesamten Volkes gegen die Diktatur“ auf den Kopf stellte, ein wenig zu erklären.
Die Erklärung ist nicht ganz falsch. Im Grunde profitieren alle Libyer von einem Staat, der ihnen bisher mit freier Gesundheitsversorgung und Bildung, ausreichenden Altersrenten, subventionierten Wohnungen etc. den höchsten Lebensstandard in der Region garantierte. Vor allem Frauen profitieren von einem System, das ihnen – im Unterschied zu den meisten anderen arabischen Ländern – dieselben Rechte wie Männern zugesteht. „Feministinnen zählen zu Gaddafis größten Fans“, musste denn auch Associated Press feststellen. „Er gab uns vollständige Freiheit, um als Frau zur Polizei gehen oder als Ingenieurin, Pilotin, Richterin oder Anwältin arbeiten zu können“, erklärte eine junge Polizistin ihre Loyalität. 27 Prozent der Arbeitsplätze des Landes werden von Frauen besetzt – wenig im internationalen Vergleich, aber sehr viel für die arabische Welt. (25) Für sie steht viel auf dem Spiel, denn auf der Agenda der Mehrheit der Rebellen im konservativ-religiösen Osten steht die Wiedereinführung der Scharia, das heißt des traditionellen islamischen Rechts.
NATO-Allianz bröckelt
Die Kriegsallianz begann angesichts der immer aussichtsloseren Situation zu bröckeln. Norwegen hat sich bereits zurückgezogen, der italienische Staatschef Berlusconi bezeichnete angesichts des Ansturms Tausender Flüchtlinge und der massiven wirtschaftlichen Einbußen bei den italienischen Libyengeschäften den Krieg insgesamt als Fehler. Ein Ausscheren Italiens würde den Rest der Kriegsallianz vor erhebliche Probleme stellen. Auch der französische Verteidigungsminister Gérard Longuet gab in einem Interview im französischen Fernsehen zu, dass die Militäraktion gegen Libyen gescheitert sei und nun die Diplomatie ans Werk müsse. „Wir müssen uns nun an einen Tisch setzen. Wir werden die Bombardierungen stoppen, sobald die Libyer beginnen, miteinander zu reden, und das Militär beider Seiten sich in seine Basen zurückzieht.“ Er rückte dabei auch vom bisher wichtigsten Kriegsziel der Allianz, Gaddafi zu stürzen, ab und meinte, dieser könne im Land bleiben „in einem anderen Raum des Palastes, mit einem anderen Titel.“ London und Washington zogen wenig später nach und begannen mit der Suche nach einer für sie und ihre Verbündeten noch akzeptablen Verhandlungslösung.
Diese war und ist nicht in Sicht. Einen echten Kompromiss, der die tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Land berücksichtigt, hat die NATO nicht im Sinn. Auch für die Aufständischen sind ein Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung, die Gaddafi zum guten Teil an der Macht ließe, wenig attraktiv. In den von ihnen tatsächlich „kontrollierten Gebieten“ lebt nur ein Viertel der Bevölkerung. Unabhängig davon, welche institutionellen Änderungen vereinbart werden, könnten sie aufgrund ihres schwächeren Rückhaltes in der Bevölkerung ihre Position kaum lange halten. Aus diesem Grund beharrte der Übergangsrat trotz des westlichen Drängens auf dem Abgang Gaddafis und seiner Getreuen als Vorbedingung für Verhandlungen.
Unterdessen hatte die libysche Regierung, die lange Zeit einen Waffenstillstand und Verhandlungen ohne Vorbedingungen angebot, erklärt, dass es keine Gespräche geben würde, bevor nicht die Luftangriffe eingestellt wurden. Sie forderte zudem die Freigabe ihrer eingefrorenen Auslandsguthaben. (26)
Zu der Zersplitterung der Aufständischen kommt offenbar zunehmend Widerstand in den von ihnen kontrollierten Gebieten selbst. Wie die israelische Zeitung Ha’aretz berichtete, drängen die Oberhäupter der örtlichen Stämme in der Gegend der umkämpften Stadt Misrata die dortigen Aufständischen, ihre Waffen niederzulegen. Sie drohen, andernfalls aufseiten der Regierung einzugreifen. (27)
Zunehmend komme Frustration und Angst vor einem lang andauernden Krieg zum Vorschein, berichtete dpa aus der zwischen Bengasi und Tobruk gelegenen Küstenstadt Derna. Die meisten Leute sind ohne Arbeit, die Schulen sind geschlossen und die Lebensmittelpreise steigen rapide. Es gebe schon einzelne Widerstandsnester gegen die Aufständischen, die bei Nacht aktiv werden. Sollte der Krieg noch länger dauern, könnten sich immer mehr Bürger der Stadt diesen anschließen. (28)
Der Unmut über den rücksichtslosen Bombenkrieg der USA und der alten Kolonialmächte dürfte auch in den Reihen der Aufständischen zugenommen haben. Viele Libyer haben den US-geführten Krieg gegen Irak nicht vergessen und haben daher wenig Vertrauen in die Kriegsallianz. Dies gilt nicht zuletzt auch für den starken islamistischen Flügel der Opposition. Die Bemerkung des politisch aktivsten Sohnes Gaddafis, Saif al-Islam, gegenüber der New York Times, es gebe Verhandlungen mit deren Führern ist daher nicht unplausibel. Die Islamisten könnten durchaus feststellen, dass ihr größerer Feind die NATO und deren wirtschaftsliberale Verbündete sind.
Eine Wende könnte das Eingreifen der Führung der libyschen Stämme in das Geschehen bringen, die in Libyen eine große Rolle spielen. Bereits im Mai hatten 2000 Scheichs und Stammesälteste den NATO-Krieg und die Libyer, die ihn unterstützen, verurteilt, jedoch allen Rebellen, die den Kampf aufgeben, Versöhnung angeboten. (29) In einer Serie von Treffen im Land und in den Nachbarländern hatte sich die Mehrheit, wie es scheint, auf Maßnahmen zur Beendigung des Bürgerkrieges und der NATO-Intervention geeinigt. Ende Juli verabschiedete der Oberste Stammesrat Libyens schließlich eine „Proklamation der libyschen Stämme“. Das von einer großen Zahl von Stammesführern unterzeichnete Manifest verurteilt „die Kreuzfahrer-Aggression gegen die Große Dschamahirija durch die NATO und rückschrittliche arabische Kräfte“, die eine große Bedrohung für libysche Zivilisten darstelle, die fortgesetzt durch NATO-Bomben getötet werden. Die Notabeln erklärten darin zudem ihre „völlige Ablehnung des sogenannten Übergangsrates in Bengasi, der von Stammesvertretern weder nominiert noch gewählt, sondern von der NATO eingesetzt wurde“. Sie werden keine andere Autorität als die des Volkskongresses und der Volkskomitees akzeptieren. Die libyschen Stämme hätten sich bisher noch nicht vollständig auf ein Zurückschlagen der NATO-Aggression einigen können, so ein Vertreter beim Stammesrat. Nun würden sie aber die NATO wissen lassen, dass sie von nun an nicht ruhen werden, bis sie das Land verlassen haben und sichergestellt sei, dass sie nie mehr zurückkommen. (30)
Solange die Kampfjets der NATO in kurzer Zeit überall zuschlagen können, wo sich Regierungstruppen formieren, ist an eine Rückeroberung der weit entfernten Städte im Osten durch reguläre Truppen nicht zu denken. Sollte sich jedoch tatsächlich eine Mehrheit der Stämme unmittelbar gegen die Aufständischen wenden, könnte sich das Blatt rasch wenden.


Anmerkungen
(1) A Series of Challenges Await a Post-Gadhafi Libya
(2) Libya blasts NATO village ‘massacre,’ rebels in crisis, AFP, Radio Netherlands Worldwide, 9.8.2011, Franklin Lamb, NATO’S Massacre at Majer, Libya, Counterpunch, 21.8.2011
(3) NATO widens air war in Libya, targeting key sites in Tripoli – A state TV facility and one of Kadafi’s residences have been hit. Los Angeles Times, 26.4.2011
(4) NATO Says It Is Broadening Attacks on Libya Targets, New York Times, 26.4.2011
(5) NATO urged to target Gadhafi, The Daily Telegraph, 25.4.2011, siehe auch: We might try to kill Gaddafi with air strike, says Defence Secretary Liam Fox, The Daily Telegraph, 21.3.2011
(6) Gaddafis jüngster Sohn stirbt bei Nato-Angriff, Spiegel Online, 1.5.2011, Wenn Gaddafi ins Visier gerät, F.A.Z., 02.05.2011, Cynthia McKinney’s reports of her visit to Libya, Internat. Action Center, 24.5.2011
(7) Afrikanische Union fordert: Keine Bomben auf Regierungsvertreter, STANDARD 27.04.2011
(8) Putin: Spitzenpolitiker der Welt nicht zur Hinrichtung von Gaddafi berechtigt, RIA Novosti. 26,04,2011
(9) Putin: Libya coalition has no right to kill Gaddafi, Reuters, Tue Apr 26, 2011
(10) Libyan Rebels have conceded Ground since Bombing Began, Independent 27.7.2011
(11) NATO War on Libya in an Impasse: Another take on Libya Hubris for China, Asian Times,19.7.2011
(12) Libya after Gaddafi: the grand design for a post-Gaddafi country, 8.8.2011 (kostenlos hier)
(13) Gunnar Heinsohn, Da schweigt Gaddafi – Wer sind die Aufständischen, F.A.Z. 22.3.2011. Siehe auch African migrants targeted in Libya, Al Jazeera, 28.02.2011 und Wolfgang Weber, Libysche Rebellen massakrieren Schwarzafrikaner, WSWS, 31.3.2011
(14) Donatella Rovera: “Es fand eine regelrechte Jagd auf Migranten statt“, Der Standard, 6.8.2011
(15) Libya City Torn by Tribal Feud – Ethnic Hatred Rooted in Battle for Misrata Underlines Challenges the Nation Faces After Gadhafi, The Wall Street Journal, 21.6.2011
(16) Libya: it wasn’t supposed to be like this in free Benghazi, Daily Telegraph, 23.3.2011
(17) Susan Lindauer, Going Rogue: NATO War Crimes in Libya, Activist Post, 7.6.2011
(18) Libya: Opposition Forces Should Protect Civilians and Hospitals – Looting, Arson, and Some Beatings in Captured Western Towns, HRW, 13.7.2011
(19) NATO facing military Stalemate in Libya, WSWS, 4.8.2011
(20) »Übergangsrat ist ein obskures Gremium«, Ein Gespräch mit Lucio Caracciolo, junge Welt, 2.5.2011
(21) Libya conflict: Younes death betrays rebel divisions, BBC, 30.7.2011
(22) siehe Libya in Pictures: What the Mainstream Media Does Not Tell You, Reports from Tripoli by Mahdi Darius Nazemroaya, Global Research, 16.7.2011 und Manifestación Plaza Verde Trípoli, TeleSur, 1.7.2011
(23) Gadhafi supporters rally for him in former rebel city, CNN, 18.7.2011, Nach internationaler Anerkennung der Rebellen – Gaddafi wettert gegen Aufständische, Tagesschau, 17.07.2011
(24) Mons. Martinelli: „Lebensmittellager werden bombardiert, mit welchem Recht?“, Fidesdienst, 26.07.2011
(25) Feminist Women Among Gadhafi’s Biggest Fans, AP, 8.6.2011, siehe auch Susan Lindauer, Libya’s War for “The Abaya”: Women’s Rights and NATO’s Support of Pro-Islamist Rebels, Global Research, 27.7.2011
(26) Libyan Rebels have conceded Ground since Bombing Began, Independent 27.7.2011
(27) Libya tribal leaders try to convince rebels to lay down arms, Haaretz, 24.04.11
(28) NATO Escalates Bombing Assault, Libyans Fear Pro-tracted War, dpa, 26.4.2011
(29) Zusammenfassung The Tribal Gathering of May, libyancivilwar.blogspot.com, 6.5.2011,
Libyan Regime: Tribal Meeting Is Sign of Support, AP, 5.5.2011, Video auf YouToube (mit engl. Untertiteln) 2000 Libyan tribes against rebels and NATO
(30) Die Proklamation wurde von libyschen Journalisten zusammen mit einer Erklärung zur Bombardierung des libyschen Fernsehens an ausländische Kollegen versandt. Siehe Lisa Karpova, NATO war crimes, the murder of journalists, Pravda.Ru, 3.8.2011, sowie Franklin Lamb (aus Tripolis), End Game For Benghazi Rebels As Libyan Tribes Prepare To Weigh In, Countercurrents.org, 3.8.2011
(31) Hague refuses to put timeline on operations in Libya, Independent, 2.8.201

Appell gegen Libyen-Krieg – über 500 Unterschriften

Seit dem 19. März 2011 bombardieren die USA und Nato-Truppen Libyen. Verlogen missbrauchen die Aggressoren für ihre Rechtfertigung die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates, die niemanden zu Bombenangriffen, Waffenlieferungen, der Entsendung und dem Einsatz von Sondereinheiten ermächtigt.
Deshalb müssen neben den zahlreichen Opfern der libyschen Bevölkerung auch die Vereinten Nation und ihre Charta zu den Verlierern dieses Krieges gezählt werden.Was der ehemalige südafrikanische Staatspräsident Thabo Mbeki im Zusammenhang mit der militärischen Intervention in der Elfenbeinküste erklärte, gilt uneingeschränkt auch für den Krieg gegen Libyen.
Die UN haben ihre Akzeptanz als „neutrale Macht bei der Lösung innerer Konflikte ernsthaft unterminiert“. Es wird der UN in Zukunft schwerfallen, Staaten davon zu überzeugen, „dass sie nicht nur ein bloßes Instrument in den Händen der Großmächte ist“. Die Geschehnisse haben „der Fiktion“ endgültig „ein Ende gesetzt, dass die Großmächte die Herrschaft des Gesetzes in den internationalen Beziehungen achten“.
Auch Libyen wird so ein „missbrauchtes und erniedrigtes Opfer eines Weltsystems“, das zwar „lautstark etwas von Menschenrechten schreit“, tatsächlich jedoch „nur die Herrschaft der Wenigen, welche die dominierenden politischen, wirtschaftlichen, militärischen und medialen Mittel besitzen, über die Vielen festigen“ will.
Die meisten Medien verheimlichen die Bilder von den Schrecken dieses Krieges. Sie dämonisieren bewusst die Person Gaddafi, um von den Leiden des libyschen Volkes durch Bombardements und Embargo abzulenken. Sie lassen die Vertreter der libyschen Regierung nicht zu Wort kommen, verschweigen die wirklichen Interessen, die hinter dem Raub- und Aggressionskrieg der Kriegsallianz stehen.
Diese Allianz, die in Libyen eine ihr gefügige Marionettenregierung an die Macht bomben will, hat bisher jeden Verhandlungsvorschlag, jeden Vermittlungsversuch, selbst freie Wahlen abgelehnt.
Der Aufruf „Frieden für Libyen! Solidarität mit dem libyschen Volk“, will dazu beitragen, diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu beenden, den die dafür Verantwortlichen der Kriegsallianz menschenverachtend und zynisch als Maßnahme zum „Schutz von Menschenrechten“ bezeichnen.
Dazu ist es notwendig, eine breite Solidaritätsbewegung mit dem libyschen Volk aufzubauen, unsere Bevölkerung zu informieren, wachzurütteln, für eine Beendigung der Bombardierung, für den Frieden zu mobilisieren. Die mehr als 500 Unterzeichner unter dem Appell zeigen, dass dies möglich ist.
Von den namhaften Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens seien hier nur einige genannt:
Dr. Richard Albrecht, Autor & Editor;
Mag. Gernot F. Augustin, Präsident der Österreichisch-Arabischen Gesellschaft;
Hans Bauer, Rechtsanwalt, Vorsitzender der Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung (GRH) e.V.;
Dr. Friedrich-Martin Balzer, Historiker;
Dr. Matin Baraki, Lehrbeauftragter an der Universität Marburg;
Elia Baz, Vorsitzender des Deutsch-Arabischen Freundeskreis e.V.;
Privatdozent Dr. Johannes M. Becker, Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung;
Rolf Becker, Schauspieler;
Winfried Belz, Heidelberger Friedensratschlag;
Erika Beltz, DKP Gießen;
Michael Beltz, Stadtverordneter, Gießen;
Prof. Dr. Rüdiger Bernhardt, Literaturwissenschaftler und Autor;
Rolf Berthold, Botschafter a. D., Vorsitzender des „RotFuchs“-Fördervereins e.V.;
Prof. Dr. Wolfgang Beutin, Schriftsteller, Privatdozent;
Heide Beutin, Wissenschaftspublizistin;
Wolfgang Bittner, Schriftsteller;
Susanna Böhme-Kuby, Publizistin;
Volker Bräutigam, Publizist;
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Sevim Dagdelen, MdB, Sprecherin für Internationale Beziehungen DIE LINKE;
Elias Davidsson, Komponist und Völkerrechtler;
Franz Josef Degenhardt, Musiker und Schriftsteller;
Kai Degenhardt, Musiker;
Prof. Dr. Götz Dieckmann, Historiker, stellvertr. Vorsitzender des „RotFuchs“-Fördervereins;
Hartmut Drewes, Pastor i.R.;
Dr. Hajo Dröll, Gewerkschaftssekretär;
Bernd Duschner, „Freundschaft mit Valjevo“;
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Peter Feininger, Forum solidarisches und friedliches Augsburg;
Dr. sc. Gerhard Feldbauer, Historiker und Publizist;
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Lothar Geisler, Mitherausgeber der „Marxistischen Blätter“, Geschäftsführer des Neue-Impulse-Verlags;
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Dr. Hans Christoph Stoodt, Pfarrer;
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Konstantin Wecker, Musiker, Liedermacher, Komponist;
Prof. Dr. Günter Wendel; Wissenschaftshistoriker;
Holger Wendt;
Raymond Wilson, Astrophysiker, Kavli-Preisträger 2010;
Ingrid und Gerhard Zwerenz, Schriftsteller.
Der Wortlaut des Appells ist u.a. hier zu finden: Frieden für Libyen! Solidarität mit dem libyschen Volk!

Der Krieg gegen Libyen und die Rekolonialisierung Afrikas – Teil 2

Der Krieg gegen Libyen und die Rekolonialisierung Afrikas – Teil 2
Von Joachim Guilliard
Im Visier: libysches Öl und andere ökonomische Interessen
Der neue Krieg der NATO wird von der überwiegenden Mehrheit der Staaten in der Welt abgelehnt. Die meisten Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika sind überzeugt, dass er nicht zum Schutz der Zivilbevölkerung geführt wird, sondern für den unmittelbaren Zugriff auf die libyschen Öl- und Gasvorräte. In Europa herrscht jedoch bei der Einschätzung der Ziele des neuen NATO-Krieges auch bei Linken häufig Konfusion. Viele bezweifeln, dass hinter der Intervention ökonomische und strategische Motive stehen könnten. Gaddafi sei doch ein enger Partner der USA und der EU geworden, habe das Land westlichen Konzernen weit geöffnet und den Öl-Multis die Rückkehr auf die libyschen Ölfelder ermöglicht. [Damit seien auch, so liest man oft, die letzten Reste einer sozial fortschrittlichen und anti-imperialistischen Politik über Bord gegangen.]
Die Tatsache, „dass Gaddafi Libyen in den Weltmarkt und den neoliberalen Kapitalismus integriert“ habe und „von einem Feind des Westens zu einem der verlässlichsten Partner in der Region geworden“ sei, schreibt z.B. Ingar Solty in der Zeitschrift Sozialismus, schließe „die Möglichkeit aus, dass es beim Krieg gegen Libyen um dessen „Einreihung in den globalen Kapitalismus“ gehe. Schließlich sei die „Weltmarktintegration“ nicht einmal – wie anderswo – von IWF und Weltbank erzwungen worden, sondern aus eigenem Antrieb erfolgt. [1]
Hinter dieser Einschätzung steht ein sehr oberflächlicher Blick auf die Entwicklungen in Libyen. Er ignoriert zum einen die massiven Zwänge, denen Libyen durch die UN-Sanktionen und die Kriegsdrohungen aus Washington ausgesetzt war und überschätzt die Zugeständnisse an den Westen sehr. Zwar sind alle großen Ölfirmen wieder im Land, doch zu sehr restriktiven Bedingungen. Das libysche Engagement für die afrikanische Einheit und Unabhängigkeit steht diametral den Bemühungen der USA und der alten Kolonialmächte gegenüber, ihren Einfluss auszuweiten. (Zur Frage, wie fortschrittlich Libyen in sozialer Hinsicht bis Kriegsbeginn noch war, siehe „Zerstörung eines Landes – Droht Libyen der gleiche Absturz wie dem Irak? Überlegungen über den drohenden »Preis der Freiheit«, jW 5.5.2011)
Mit 46,6 Milliarden Barrel (ein Barrel sind 159 Liter) verfügt Libyen über die größten nachgewiesenen Ölreserven Afrikas und steht weltweit auf Platz acht. Da bisher nur ein Viertel der weiten Flächen Landes auf Kohlenwasserstoffvorkommen untersucht wurde, sind die Vorkommen vermutlich noch wesentlich größer.
Nur ein Fünftel der bekannten Vorkommen wurden bisher erschlossen, Libyen liegt daher mit einer Fördermenge von etwa 1,7 Millionen Barrel Rohöl am Tag (bpd) hinter Angola und Nigeria. Um seine Reserven nicht zu verschleudern, fördert das Land nur halb so viel, wie bis 1969 unter der Monarchie, als die großen westlichen Konzerne die Ölpolitik des Landes bestimmten. [Libyen war damals zwar in kurzer Zeit zum führenden Öl-Exporteur aufgestiegen, bekam aber den niedrigsten Preis weltweit pro Barrel.] „Nur zwei Länder haben die Kapazität ihre Ölproduktion zu verdoppeln: Libyen und Irak“, so 2005 Nabil Khodadad, von der Beraterfirma Chadbourne & Parke.[2] Libyen plant jedoch lediglich eine Steigerung auf 2,3 Million bpd. Aus Sicht der Öl-Multis liegt allein hier schon ein erhebliches, brach liegendes Potential.
Nach dem Sturz des von den USA und den Briten eingesetzten König Idris im Jahr 1969 waren nach und nach die meisten ausländischen Unternehmen verdrängt und die Ölproduktion in die Hände der staatlichen Libyschen Nationalen Ölgesellschaft LNOC überführt worden. Libyen wurde zum Vorreiter der OPEC-Staaten und setzte als erstes Land höhere Preise für sein Öl durch. Innerhalb von 10 Jahren verfünffachten sich daraufhin die Staatseinnahmen. Mit den Öleinnahmen konnte der Staat seinen Bürgern einen relativen hohen Lebensstandard verschaffen, den höchsten Afrikas. Sozialistische Ideen spielte bei allen damaligen Revolutionen eine wichtige Rolle, Libyen setzte sie jedoch wesentlich gründlicher um, als andere Länder der Region. Gesundheit und Bildung ist seitdem kostenlos, wichtige Güter und Dienstleistungen werden subventioniert, Alte, Witwen und Waisen erhalten eine Rente, Arbeitslose finanzielle Unterstützung u.v.m..
Es gelang jedoch nicht, Libyens Abhängigkeit vom Erdölexport zu verringern. Niedrige Rohölpreise und die gegen das Land verhängten Sanktionen brachten die Wirtschaft in den 1990er Jahren an den Rand des Ruins. Das Bruttoinlandsprodukt hatte sich am Ende fast halbiert, jegliche Modernisierung der Infrastruktur war blockiert. Die libysche Führung suchte daher nun einen Ausgleich mit dem Westen und machte dabei erhebliche Konzessionen. U.a. lieferte sie 1999 zwei Offiziere an Großbritannien aus, die für den Bombenanschlag auf ein Verkehrsflugzeug über dem schottischen Lockerbie verantwortlich gemacht wurden, obwohl die Beweise dafür äußerst zweifelhaft waren. [3]
Begrenzte und kontrollierte Öffnung
Die UN-Sanktionen wurden ab 1999 sukzessive gelockert und 2004 vollständig aufgehoben. Im Gegenzug machte Libyen seine Öl- und Gasindustrie für ausländische Unternehmen weit auf. Mittlerweile sind wieder alle großen US-amerikanischen und europäischen Ölkonzerne im Land aktiv.
Die Bedingungen im nordafrikanischen Land sind jedoch sehr rau. Die Öl- und Gas-Geschäfte werden seit August 2004 nach dem sogenannten EPSA-4 System abgeschlossen (EPSA: Exploration und Produktion Sharing Agreement). Mit den neuen Explorations- und Produktionsbeteiligungen zogen nicht nur die großen US-Konzerne wieder in Libyen ein, sondern führte durch die Beteiligung vieler asiatischer und russischer Firmen auch zu einer starken Diversifizierung der Anbieter. Das Vergabeverfahren wird zwar als sehr transparent gelobt – den Zuschlag erhält der, der sich mit dem geringsten Anteil am geförderten Öl bzw. Gas zufrieden gibt. Die EPSA-4- Verträge enthalten jedoch, so Bob Fryklund, dem ehemaligen Libyenchef des US-Multis ConocoPhillips, die strengsten Konditionen der Welt. Westliche Medien sprechen sogar von „Knebelverträgen“.[4]
Geschäfte sind nach diesem System grundsätzlich nur in Partnerschaft mit der nationalen Ölgesellschaft LNOC oder anderen staatlichen Unternehmen möglich, die dabei stets die Mehrheitsanteile (meist 60% und mehr) und somit die Kontrolle behalten. Schon für den Abschluss eines Vertrages sind hohe Zeichnungsgebühren hinzublättern. Bei der zweiten, 2005 durchgeführten Bieterrunde mussten die Interessenten z.B. jeweils 133 Millionen Dollar Gebühren an den libyschen Staat bezahlen und mehrere hundert Millionen für Explorationen bereitstellen. [5] Die Konzerne die den Zuschlag erhalten, tragen den größten Teil der Entwicklungskosten eines Ölfelds, die LNOC bleibt jedoch alleinige Eigentümerin.
[[Der britische Ölriese BP konnte sich zwar 2007 die Explorationsrechte für ein Gebiet der Größe von Kroatien sichern (55.000 Quadratkilometer) – das größte Engagement in der Firmengeschichte – musste dafür allerdings 600 Millionen Euro auf den Tisch legen. Der Konzern trägt alle Kosten und Risiken, muss sich aber bei einem Erfolg mit 20 Prozent der Produktionserlöse begnügen. Die russische Gazprom muss der LNOC sogar 90 Prozent des geförderten Öls aus dem von ihr betriebenen Ölfeld im Gadames-Becken überlassen.[6] ]]
Generell ist der Anteil der Ölproduktion, den ausländische Firmen für sich behalten können, mit durchschnittlich 11 Prozent recht bescheiden. Doch dafür ist das Öl von bester Qualität und liegt sehr nahe bei den europäischen Abnehmern, an die rund 70 Prozent der libyschen Öl- und Gasexporte gehen. Der Anteil libyschen Erdöls am Verbrauch der EU-Staaten liegt mittlerweile bei 10 Prozent, in Deutschland sind es 6 Prozent. [7]
Innerhalb von drei Jahren führte die LNOC vier Bieterrunden durch und vergab dabei 52 Verträge an knapp drei Dutzend Gesellschaften aus 20 Ländern. Der ersten Euphorie über die großen neuen Chancen, die sich in Libyen eröffneten, folgte aber oft Enttäuschung. Viele der Gebiete, für die Libyen Explorations-Konzessionen vergeben hatte, erwiesen sich als weit weniger ergiebig als erhofft. Eine Reihe von Ölkonzernen begann, Berichten zufolge, 2010 ihr Engagement in Libyen nach Ablauf der fünfjährigen Explorationslizenz zu beenden, darunter sollen auch die US-Konzerne Occidental und Chevron, sowie die französische Total sein.[8] Die ergiebigsten Ölfelder blieben zum großen Ärger der Öl-Multis weiterhin ausschließlich der LNOC und ihren Töchtern vorbehalten.[9]
Die Hoffnungen, dass Ausländern auch noch diese Goldgruben zugänglich gemacht werden, erfüllten sich nicht. Nach der vierten Vergaberunde entschied die LNOC, vorerst keine neue durchzuführen, sondern stattdessen die bestehenden Verträge nachzuverhandeln und dabei die älteren dem strengeren EPSA-4 Standard anzupassen – für die Ölfirmen ein schwerer finanzieller Rückschlag.
Petro-Canada musste z.B. für die Umstellung aller Verträge eine Abschlussgebühr von einer Milliarde Dollar bezahlen, sowie Investitionen in Höhe von knapp vier Milliarden Dollar für die Erneuerung alter und die Erforschung neuer Öl- und Gasvorkommen zusichern. Gleichzeitig mussten die Kanadier die Reduktion ihres Anteils am Output auf 12 Prozent akzeptieren. [10]
Anderen Firmen erging es nicht besser. Auch die italienische ENI, die seit langem in Libyen im Geschäft ist, Total (Frankreich) und Repsol (Spanien), um nur einige zu nennen, sahen sich zu Nachverhandlungen und der Zustimmung zu einer drastischen Senkung ihres Anteils am geförderten Rohöl gezwungen.
Die großen Ölkonzerne versuchten sich natürlich dagegen zu wehren. Letztlich hatten sie jedoch wenig in der Hand. Da sie bereits erhebliche Summen in die Erkundung gesteckt haben, kam ein Ausstieg nicht mehr in Frage. Die LNOC drohte zudem damit, weitere Entwicklung der Ölförderung zukünftig auch alleine durchzuführen könne.
Die Stimmung in der Branche, deren Investitionsvolumen in Libyen mittlerweile auf über 50 Mrd. Dollar geschätzt wird, fiel auf einen Tiefpunkt, als Gaddafi sie vor zwei Jahren mit öffentlichen Überlegungen verunsicherte, angesichts sinkender Mineralölpreise, einige Einrichtungen internationaler Ölkonzerne wieder zu verstaatlichen. [[Mit der kleinen kanadischen Firma Verenex Energy übernahm die LNOC tatsächlich eines der wenigen Unternehmen, die in den letzten Jahren einen größeren Fund machten – ein Ölfeld mit 2,15 Mrd. Barrel Öl, d.h. 5% der gesamten libyschen Reserven. Verenex sollte eigentlich an die chinesische CNPC verkauft werden, da die LNOC aber auf ihr Vorkaufsrecht bzgl. des libyschen Engagements pochte und den Deal blockierte, musste sie an die Libyer verkaufen, zu 70% des Preises, den CNPC geboten hatte.]]
Die Sorge um die Beständigkeit ihrer Geschäfte schürte im März letzten Jahres auch die Mitteilung der LNOC an die im Land aktiven US-Konzerne, dass Washingtons unfreundliche Politik gegenüber Libyen negative Auswirkungen auf ihre Geschäfte im Lande haben könne.[11]
Wirtschaftliche Liberalisierung unerwünscht
Zur gleichen Zeit kamen aus Tripolis aber auch andere Töne. Führende Kader aus dem „Ausschuss für Privatisierung und Investitionen“ der Regierung kündigten z.B. gleichfalls im März 2010 an, bis 2020 die Hälfte aller Staatsbetriebe in die Hände privater Investoren übergeben zu wollen. [12]
In der libyschen Führung stritten offensichtlich zwei Tendenzen: Die eine setzte auf eine stärkere Privatisierung, wollte mit bessere Konditionen für westliche Konzerne und Banken mehr ausländisches Kapital anlocken. Die andere wollte die Kontrolle über die Ressourcen des Landes behalten und propagierte eine stärkere „Libyanisierung“ der Ölproduktion. [13] Diese hat sich, gestützt auf die Stimmung in der Bevölkerung, letztlich meist als stärker erwiesen.
Trotz vieler vollmundiger Ankündigungen, mit denen große Erwartungen in der westlichen Geschäftswelt geweckt wurden, ist außerhalb des Öl- und Gassektors nicht viel passiert. 2000 hatte die libysche Führung zwar angekündigt, dass der Staat sich aus der Industrieproduktion zurückziehen wolle und im November 2003 auch eine Liste der ersten 360 Privatisierungskandidaten veröffentlicht. Die sich infolge steigender Ölpreise rasch entspannende Finanzlage des Landes nahm dem Verkauf von Staatsbetrieben jedoch jegliche Dringlichkeit. Bis 2010 waren erst 110 Staatsbetriebe tatsächlich privatisiert worden.[14] Zum größten Teil waren es kleinere Firmen, die an libysche Unternehmen oder Tascharukiayyas (Genossenschaften) verkauft wurden.
Selbstverständlich machten ausländische Konzerne blendende Geschäfte im Land, das nach langen Embargo-Jahren einen großen Nachholbedarf hatte und in großem Stil Infrastrukturprojekte vorantrieb. Siemens z.B. setzte in den letzten Jahren mehrere Hundert Millionen Euro mit Schaltanlagen und Gasturbinen sowie Steuerungssysteme, Pumpen, Motoren und Antriebe für das Wasserversorgungsprojekt „Great Man-made River“ um. Allein im Geschäftsjahr 2010 betrug der Umsatz mit libyschen Kunden 159 Mio. Euro.[15]
Ausländische Investoren kamen jedoch nur bei wenigen Gelegenheiten zum Zug. Einen größeren Umfang hatten nur die Verkäufe von 19 Prozent-Anteilen der Sahara Bank an die französische BNP Paribas 2007 und der Wahda Bank an die jordanische Arab Bank plc 2008.[16] Andere, gleichfalls stark an einem Einstieg in Libyen Interessierte, wie beispielsweise die britische Großbank HSBC, gingen leer aus. Das weltweit sechstgrößte Bankunternehmen unterhält zwar seit Jahren eine Repräsentanz in Tripolis, betreibt jedoch, wie HSBC zu Beginn der Aufstände vermeldete, „keine echte Geschäfte im Land.“ [17]
Auch das gewaltige Wasserprojekt, durch das die Küstenstädte mit den unter der Sahara liegenden gigantischen Grundwasservorräten versorgt werden, weckt sicherlich Begehrlichkeiten. Über das im Rahmen des „Great Man-Made River Project“ aufgebaute 4000 km langes Pipelinenetz wird Schätzungen zufolge noch mehrere hundert Jahre lang enorme Mengen Wasser fließen. [18]
Libyen hat das 25 Milliarden Dollar teuere Projekt bisher vollständig in Eigenregie betrieben und allein finanziert und damit, so Pepe Escobar, aus Sicht westlicher Banken und Konzerne ohnehin „ein sehr schlechtes Beispiel“ für Entwicklungsländer gegeben.[19] Das weltweite Geschäft mit dem Wasser wird von französischen Konzernen beherrscht, den „drei Schwestern“ Veolia, Suez-Ondeo und SAUR – die sich zusammen bereits 40 Prozent des Weltwassermarktes teilen.
Der Grund für die mangelnde Umsetzung der Privatisierungspläne liegt nicht nur im Widerstand innerhalb der libyschen Führung und Verwaltung gegen eine solche Liberalisierung, sondern der gesamten Gesellschaft. Bereits im September 2000 erschien in Al-Zahf al-Akhdar, einer Zeitschrift, die als Sprachrohr der Basisvolkskongresse angesehen wird, ein Bericht, in dem die Aktivitäten ausländischer Firmen in Libyen scharf kritisiert und als Gefahr für die libysche Gesellschaft dargestellt wurde.[21]
Die öffentliche Kritik an der Liberalisierungspolitik verschärfte sich 2005 als einige Subventionen abgebaut und Importzölle abgeschafft wurden. Gaddafi, dem ein gutes Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung nachgesagt wird, initiierte daraufhin 2006 eine Regierungsumbildung, bei der der reformorientierte Schukri Ghanem das Amt des Ministerpräsidenten an seinen reform-skeptischen Vize verlor, jedoch mit dem gewichtigen Chefposten der LNOC entschädigt wurde.[22]
Die Ölmultis wurden nun angewiesen, alle Jobs, für die keine speziellen Kenntnisse nötig sind, an Libyer zu vergeben und zwar zu denselben Bedingungen, wie den ausländischen Angestellten. Zusätzlich wurden sie gesetzlich zu deren Weiterbildung verpflichtet. Im August 2009 gab die Regierung zudem eine Richtlinie heraus, nach der alle ausländischen Gesellschaften für die Tätigkeiten im Land einen libyschen Staatsbürger zum Geschäftsführer bestimmen müssen – für diese, angesichts dessen, dass sie den größten Teil der Investitionen tragen, ein schwer verdaulicher Brocken. Schukri Ghanem trat daraufhin zeitweilig von der Spitze des LNOC zurück und offenbarte damit erneut den ernsten Zwist innerhalb der libyschen Führung. Ghanem verkündete Anfang Juni in Rom seinen Übertritt ins pro-westliche Rebellenlager.
Der zukünftige Kurs in Bezug auf eine Liberalisierung der Wirtschaft war auch ein zentraler Punkt bei den Sitzungen der Basisvolkskongresse (BVK) im Februar 2009. Wie FAZ-Korrespondent Christoph Ehrhardt aus Tripolis berichtete, war die Stimmung auf deren Sitzungen eindeutig gegen die Pläne einer stärkeren Privatisierung und Liberalisierung der Wirtschaft und den Abbau von Subventionen. [23] Auch Gaddafis Vorschlag, die Regierung und die zentrale Verwaltung abzubauen und die Öl-Einnahmen den Leuten direkter zukommen zu lassen, fand wenig Anklang. Die meisten zeigten wenig Neigung, sich künftig z.B. selbst um die Gesundheitsfürsorge kümmern zu müssen und wollten das System der vom Staat verwalteten Sozialleistungen und Renten behalten. Nur 64 der 468 BVK stimmten schließlich dafür und die Pläne wurden nicht weiter verfolgt.[24]
Die Befürworter neoliberaler Reformen waren zunehmend frustriert. Ihre entschiedensten Verfechter wie Mahmoud Dschibril und Ali Al-Issawi, sitzen nun in den führenden Positionen der Gegenregierung. Die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren sie jedoch offensichtlich nicht. Sollte die NATO-Intervention einen Machtwechsel in Tripolis durchsetzen oder der Bürgerkrieg zu einer Teilung des Landes führen, können sich westliche Konzerne begründete Hoffnungen machen, in Zukunft besser zum Zuge zu kommen.
Ähnlich wie in Jugoslawien, liegt das Problem der Nato-Staaten nicht allein in einem zu selbständigen Staatschef, sondern vielmehr darin, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich noch wesentlich renitenter gegen breitere wirtschaftliche Öffnung und neoliberale Reformen stellt. Der Krieg, die Sanktionen und die Zerstörung der Infrastruktur dienen daher auch dazu, diesen Widerstand zu brechen.
Gleichfalls begehrt: Bankwesen und Auslandsvermögen
Es gibt jedoch noch viel mehr, was westliche Banken und Konzerne in Libyen reizt. Aufgrund der extrem hohen Liquidität staatlicher Banken streben sie schon lange einen Einstieg in den libyschen Banksektor an. Während führende Ökonomien der Welt mit riesigen Defiziten zu kämpfen haben, die ihre Währung schwächen und ihnen die Neuaufnahme von Krediten erschwere, monierte der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem Jahresbericht 2010 zu Libyen, sitze das Land auf einem Überschuss [Netto-Auslandsvermögen] von 150 Millionen Dollar. [25]
Der Raub libyscher Guthaben hat bereits begonnen. Ende Februar froren die USA 32 Milliarden Dollar, die die „Libyan Investment Authority“ auf US-Banken deponiert hat ein, wenige Tage später blockierten EU-Staaten Anlagen libyscher Institutionen und Firmen in Höhe von 45 Milliarden Euro. Insgesamt wurden nach Angaben des ehemaligen Zentralbankchefs Farhat Omar Bengdara mittlerweile 130 Milliarden Dollar eingefrorenen. Diese Vermögenswerte – das Ergebnis jahrzehntelanger Exporte von Öl und Gas – werfen auch ohne Zutun Milliarden an Zinsen und Dividenden pro Jahr ab. Da Libyen nun aber nach Fälligkeit seiner Anlagen nicht reinvestieren kann, können die Depotbanken die Einlagen sukzessive für eigene Investitionen nutzen und Zinsen und Dividenden für sich behalten, Libyen verliert auf diese Weise nach Schätzung Bengdaras allein in diesem Jahr rund zwei Milliarden Dollar.
Doch sind das fast schon Nebensächlichkeiten. Schon unmittelbar nach Verabschiedung der UN-Resolution 1973 hat der Übergangsrat in Bengazi parallel zu einer neuen „Libyschen Ölgesellschaft“ auch eine „Zentral Bank von Libyen“ gegründet. So wie die neue Ölgesellschaft dazu bestimmt ist, der staatlichen LNOC die Öl- und Gas-Geschäfte in dem von Übergangsrat kontrollierten Gebieten zu entreißen, soll die neue Finanzinstitution offenbar, wie Äußerungen westlicher Politiker nahelegen, das eingefrorene Auslandsvermögen Libyen übernehmen.
Während die Libysche Zentralbank zum Ärger der westlichen Finanzwelt völlig unabhängig von ausländischen Banken und dem Internationalen Währungsfond ist, soll die neue offensichtlich ganz anders gestrickt sein . Der britische Bankgigant HSBC, der den größten Anteil am libyschen Auslandsvermögen verwaltet, eilte bereits nach Bengasi, um den Aufbau der Rebellenbank zu betreuen.[26] Die anderen westlichen Großbanken werden sicherlich, sobald es opportun erscheint, folgen – ähnlich wie im Irak, wo sie nach der Invasion die Hauptanteile der neuen Zentralbank unter sich aufteilten.
Die italienische Großbank Unicredit, die Nummer zwei in Europa, ist ebenfalls schon in Bengasi aktiv. Ihr Vizepräsident ist der bisherige Chef der libyschen Zentralbank, Farhat Omar Bengdara und dieser bemüht sich nun auf Seiten der Rebellen um den Zugriff auf das libysche Vermögen und den Verkauf von Rohöl (siehe im 1. Teil den Abschnitt über die libyschen Verbündeten der Westallianz). Libyen ist mit 7,6 Prozent zweitgrößter Aktionär der italienischen Bank-Austria-Mutter UniCredit. Das libysche Investment wurde von der Regierung und rechten Medien so heftig angegriffen, dass der Langzeit-Bankchef Alessandro Profumo 2010 schließlich zurücktreten musste. Dieser dürfte nun durch das Wirken Bendaras rehabilitiert sein, der sein Amt als Vizepräsident, trotz der Einfrierung der Stimmrechte der libyschen Aktionäre behielt.
Damit der Unmut über ausbleibende Gehälter und mangelnde Versorgung in den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten nicht in Gegnerschaft umschlägt, will Bengdara den Rebellen mindestens 3,6 Mrd. Dollar zukommen lassen. Zunächst sollen diese als Kredite locker gemacht werden, für die die Auslandsguthaben als Sicherheit dienen. Die EU müsse schnell handeln, so der Banker gegenüber dem Corriere de la Sierra, denn wenn in den „befreiten Gebieten“ kein Geld zirkuliere, können auch diejenigen, die einen Job haben, ihr Gehalt nicht bekommen. Und wenn es kein Brot gebe, würden die Menschen am Ende auf die Straße gehen: Dies wäre sehr schlecht für die europäischen Länder, die intervenieren.
Schon diese Verpfändung von Eigentum, das ihnen nicht gehört, wäre  Diebstahl. Er plant jedoch mit seinen Kollegen bei UniCredit die Übernahme der gesamten eingefrorenen libyschen Kapitalanlagen.
Seine Idee ist es, einen Treuhandfonds zu etablieren, dem sie übertragen und damit wieder verfügbar gemacht werden. Unicredit scheint bereit, einen solchen Fonds zu managen, zusammen mit einem internationalen Kuratorium aus Treuhändern, die von den USA und Europa benannt werden, sowie libyschen Beratern.
Rekolonialisierung – im Kampf um Afrikas Rohstoffe
Es geht jedoch nicht nur um die libyschen Ressourcen. Die gleichzeitige französische Intervention in der Elfenbeinküste deuten wie die forcierte Ausweitung der militärischen Präsenz der USA in Afrika, auf weitere, über Libyen hinausgehende Ziele hin: die Sicherung und Ausweitung westlicher Dominanz auf dem gesamten afrikanischen Kontinent, um dessen Rohstoff-Ressourcen ein erbitterter Wettkampf stattfindet.
AFRICOM – das Afrika-Kommando der USA
Die Konkurrenz wirtschaftlich aufstrebender Nationen auf dem schwarzen Kontinent, allen voran China, wird von Washington als große Bedrohung wahrgenommen. Eine Reaktion auf diese Entwicklung war die Gründung von AFRIKOM als eigenständiges Oberkommando der US-Streitkräfte. Ein entscheidender Anstoß dafür war ein Report der „Afrikanischen Öl-Politik-Initiativen-Gruppe“ AOPIG von 2002 gewesen, der hervorhob, dass die USA bis 2015 über 25 Prozent ihres Erdöls aus Afrika beziehen werden und auf die zunehmend engeren Beziehungen zwischen afrikanischen Ländern und China hinwies. Auch lokale Konflikte, wie der erbitterte Widerstand der Bevölkerung Nigerias gegen die rücksichtlose Ausbeutung der Ölressourcen im Nigerdelta dürfte eine Rolle gespielt haben.
„Es geht nicht nur um das libysche Öl, sondern um die afrikanischen Ölreserven und die Rohstoffe des ganzen Kontinents“ befürchtet daher auch Molefi Asante, Professor für Afrikanisch-Amerikanische Studien an der Temple University in Philadelphia. [27] Der Westen reaktiviere „Kalte-Kriegs-Maßnahmen“ um seine ökonomischen Interessen auszuweiten und zu schützen. Er sieht eine große Gefahr darin, dass die USA die Angriffe auf Libyen als Test für die Effektivität von AFRICOM benutzt und der Krieg die Tür zu weiteren direkten Interventionen in Afrika öffnen wird.
Zwar wollte kein afrikanisches Land sich so exponieren, das Hauptquartier von AFRICOM bei sich aufzunehmen, doch fast alle ließen sich – mehr oder weniger stark – in militärische Partnerschaften einbinden, die meist auch die Bereitschaft verlangt, US-Truppen ins Land zu lassen. Das immer noch bei Stuttgart stationierte Oberkommando organisierte bereits eine ganze Reihe gemeinsamer Manöver in Afrika oder vor der afrikanischen Küste, an denen neben eigenen Truppen und unterschiedliche Gruppen afrikanischer Länder auch Einheiten ehemaliger europäischer Kolonalmächten teilnahmen. Hunderte afrikanische Offiziere absolvierten bereits Lehrgänge in Militärschulen der USA.
In den knapp drei Jahren, seit es zum unabhängigen Kommando wurde, hat AFRICOM dadurch direkte militärische Beziehungen zu den Streitkräften von 50 afrikanischen Staaten aufgenommen. Nur fünf Staaten verweigerten sich bzw. wurden nicht gefragt: Libyen, Sudan, die Elfenbeinküste, Eritrea und Zimbabwe.
[[Eritrea war bereits mit den, im benachbarten Dschibuti stationierten, rund 5000 US-amerikanischen und französischen Truppen konfrontiert, die bei einer Grenzstreitigkeit mit seinem Nachbarn vor drei Jahren auf Seiten Dschibutis intervenierten. [28]]]
In der Elfenbeinküste hat das französische Militär nach den umstrittenen Wahlen mit Alassane Ouattara einen stellvertretenden Direktor des Internationalen Währungsfonds ins Präsidentenamt gehievt, der das Land jetzt in das von den USA und der NATO geformte Militärbündnis „West African Standby Force“ führen wird. Der Sudan wurde geteilt, Libyen liegt unter Feuer und Zimbabwe gilt neben Syrien als wahrscheinlichster Kandidat für den nächsten Angriff der NATO-Staaten.
Nicht tolerierbar: Libyens Engagement für die wirtschaftliche Unabhängigkeit Afrikas
Libyens Engagement für eine Einigung der afrikanischen Länder – u.a. durch die Förderung der Afrikanischen Union – und die Beihilfe zu mehr wirtschaftlicher Unabhängigkeit stehen dem Bemühen der USA und der alten Kolonialmächte, ihren Einfluss in Afrika wieder auszuweiten diametral entgegen.
„Es war Gaddafis Libyen, das Afrika die erste Revolution in neuester Zeit ermöglichte“, schrieb der Kameruner Experte für Geostrategie Jean-Paul Pougala, „die den ganzen Kontinent durch Telefon, Fernsehen, Radio und verschiedene andere Anwendungen wie Tele-Medizin und Fernstudium verband.“ Denn es war libysches Kapital das entscheidend für die Realisierung des ersten afrikanischen Telekommunikationssatelliten beitrug. Über zehn Jahre lang hatten die 45 afrikanische Staaten, die sich 1992 in der RASCOM (Regional African Satellite Comunication Organization) zusammengeschlossen hatten vergeblich versucht Kapital dafür aufzunehmen und mit eigenen Satelliten die horrenden Gebühren von jährlich 500 Millionen Dollar die aus Afrika an europäische und amerikanische Firmen flossen, zu reduzieren. Doch Weltbank, Internationale Währungsfonds, USA und EU hielten die Afrikaner immer wieder hin. 2006 beendete Libyen das unwürdige Spiel und stellte 300 Millionen Dollar für das Projekt zur Verfügung. Die Afrikanische Entwicklungsbank steuerte weitere 50 Millionen bei. Nachdem der erste Satellit im Dezember 2007 seinen Dienst aufgenommen hatte, stiegen auch China und Russland ins Geschäft ein, weitere Satelliten wurden in den Orbit gestellt und machten die Afrikaner Schritt für Schritt von den westlichen Satellitensystemen unabhängig, denen dadurch nun hunderte Millionen Dollar jedes Jahr an Einnahmen verloren gehen. [29]
Bedrohlicher noch aus westlicher Sicht ist der Aufbau dreier unabhängiger afrikanischer Finanzinstitute, mit der die Afrikanischen Union begonnen hat und für deren Gründung libysche Gelder die Basis bilden: die Afrikanische Investmentbank, der Afrikanische Währungsfonds und die Afrikanische Zentralbank. Die Entwicklung dieser Institute würde es den afrikanischen Ländern ermöglichen, sich der Kontrolle von Weltbank und Weltwährungsfonds IWF, Instrumenten der neokolonialen Herrschaft, zu entziehen. Der Afrikanische Währungsfonds soll die gesamten afrikanischen Aktivitäten des IWF übernehmen, die, so Pougala, mit einem Umfang von nur 25 Mrd. Dollar einen ganzen Kontinent auf die Knie zwang.
Mit Hilfe der Afrikanischen Zentralbank könnten sich die 14 ehemaligen französischen Kolonien eine neue Währung schaffen, die den CFA-Franc endlich ablöst, der nach wie vor Frankreichs wirtschaftliche Dominanz in diesen Ländern sichert. Ohnehin ist Libyens wachsender Einfluss in Frankreichs einstigen Kolonien, die Auswirkungen auf deren Rohstoffexport-Konditionen haben, eine direkte Bedrohung französischer Interessen.
Siegt die Kriegsallianz oder werden die libyschen Auslandguthaben einfach so den Rebellen zugeschlagen, so würde das all diesen afrikanischen Unternehmungen einen schweren Schlag versetzen. Viele Projekte, die z.B. von der Libysch-Arabisch-Afrikanische Investment Gesellschaft südlich der Sahara betrieben werden, sind bereits jetzt durch das Einfrieren der libyschen Fonds stark beeinträchtigt.[30]
Es ist daher nicht übertrieben, wenn der nigerianische Poet und Journalist schreibt, der Einsatz westlicher – insbesondere französische – Truppen in Afrika, stellte „eine neue strategische Kriegserklärung gegen Afrika, die afrikanischen Interessen und den afrikanischen Kontinent“ dar.[31]
Störenfriede am Mare Nostrum der NATO
Gaddafi stellte sich auch gegen die von der EU 2008 gegründeten „Mittelmeerunion“ und nannte sie einen „neo-kolonialen Trick“ zur Zerstörung der arabischen und afrikanischen Einheit. Treibende Kraft hinter dieser Initiative, die 27 EU-Staaten mit den 17, nicht zur EU gehörenden Mittelmeerländern in einer neuen Union zu vereinen, war der französische Präsident Nicholas Sarkozy. Seine „große Idee“ dahinter, so der britische Daily Telegraph „ist Roms imperiales Zentrum der Welt als einigenden Faktor zu benutzen, um 44 Länder, Heimat von 800 Millionen Menschen zusammenzuführen.“ Der libysche Führer begründete seinen Boykott damit, dass diese nur ein weiterer imperialistischer Ansatz sei, die südlichen Länder unter Kontrolle zu halten. Drei Jahre später bombardieren Sarkozys Mirage- und Rafale-Kampfjets Gaddafis Truppen.[32]<
Der Krieg gegen Libyen ähnelt in einigen Punkten dem Jugoslawien-Krieg, dem ersten Krieg der NATO. So hatten die Bomben auf Serbien nicht nur die Abtrennung der serbischen Provinz Kosovo zum Ziel, sondern auch den Sturz eines missliebigen Regimes. Dies gelang in Restjugoslawien schließlich durch eine vom Westen geführte „bunte Revolution“. Wäre die NATO auch gegen Libyen erfolgreich, so wäre das Militärbündnis noch einen Schritt weiter, das Mittelmeer, das einstige Mare Nostrum Roms, das im Schnittpunkt dreier Kontinente liegt, zum Binnenmeer der NATO zu machen. Nach dem Anfang des Jahres auch Zypern der NATO-Partnerschaft beitrat, Israel, Jordanien, Ägypten, Algerien, Tunesien und Marokko durch den „Mittelmeer Dialog“ der Allianz eingebunden sind, stehen aktuell nur noch drei Mittelmeeranrainer außerhalb des Militärbündnis: Syrien, Libanon und Libyen.
„Partnerschaft“ mit der Nato bedeutet Öffnung des Landes für dessen Militär, insbesondere für US-Truppen und die US-Marine. Die Militär-Basen der USA breiten sich dadurch immer weiter über den Globus aus und erweitert damit auch die Fähigkeit der US-Streitkräfte überall in der Welt zuzuschlagen. So ermöglichte ihnen ihre massive Präsenz im Mittelmeerraum beispielsweise aktuell, wie US-Admiral Gary Roughead vor kurzem freimütig erklärte, die Angriffe auf Libyen – trotz der geringen Vorlaufzeit – unverzüglich nach der UN-Resolution zu beginnen. Alles war schon vor Ort und bereit zum Losschlagen.
Nicht nur Deutschland, auch andere NATO-Staaten stehen dem Krieg eher ablehnend gegenüber. Nur 14 der 27 Mitglieder beteiligen sich, gerade mal sechs bomben mit. Letztlich wird der Krieg nach wie vor von den drei Staaten geführt, die ihn begannen. Mit den USA, Großbritannien und Frankreich sind dies genau die drei militaristische Mächte, so der US-amerikanische Politologe James Petras, die ökonomisch im Niedergang sind. Ihre letzen beiden Trümpfe sind ihre militärische Stärke und ihr starker Einfluss auf viele Länder Afrikas und Asiens. Auf der anderen Seite stehen mit den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) die wirtschaftlich aufstrebenden Länder gegen den Krieg. [33] Mit Deutschland scherte das westliche Land aus der Kriegsfront aus, das aktuell am wenigsten Probleme im internationalen Wettbewerb hat.
Trotz erheblicher Differenzen schlossen sich aber am Ende doch die meisten westlichen Staaten zumindest – wie Deutschland – indirekt der Kriegsallianz an. „Das unsichtbare Band das sie zusammenbindet“, so die chinesische People’s Daily, „ist ihr gemeinsames Ziel, die Dominanz des Westens in internationalen Angelegenheiten zu erhalten. … Obwohl es eine wachsende interne Kluft in der westlichen Welt gibt, werden sie weiterhin zusammenhalten, wenn sie ihren dominanten Status bedroht fühlen.“ [34]


[1] Ingar Solty, Öl, Kontrolle und Ideologie, Sozialismus 25.4.2011
[3] Siehe z.B. El Megrahi – das Bauernopfer der Lockerbie Tragödie?, Austrian Wings Luftfahrtmagazin, 22.8.2009, Ausführliche  Informationen zum Thema findet man auf der Lockerbie Seite von Prof. Hans Köchler, dem Lockerbieprozeß-Beobachter der UNO. http://i-p-o.org/lockerbie_observer_mission.htm
[4] Alle wollen Libyens Öl, ZEIT online, 6.5.2009, siehe auch Energy profile of Libya, Encyclopedia of Earth , 25.8.2008
[6] Alle wollen Libyens Öl, ZEIT online, 6.5.2009
[7] s. Jean-Pierre Sereni, Am Anfang war der Rote Scheich – Eine kleine Geschichte des libyschen Öls, Le Monde diplomatique, 8.4.2011
[8] Companies Begin Exiting Libyan Upstream, Energy Intelligence Group, 10.11.2010
[9] Party’s Over For Libya’s Epsa-4 Pioneers, Energy Intelligence Group, 7.12. 2009
[10] Petro-Canada Signs 30-Year Pact With Libya, Cable 08TRIPOLI498, 24.8.2008, Wikileaks
[11]Ronald Bruce St John, The Slow Pace of Reform Clouds the Libyan Succession, ARI 45/2010 11.3.2010
[14] New Head Of Libyan Privatization Board Welcomes U.S. Firms, US-Botschaft in Tripolis, 16.2.2010, WikiLeaks Cables
[15] Siemens in Libyen, Siemens (www.siemens.com), November 2010
[16] Libyen geht bei Privatisierung mit Bedacht vor, Germany Trade and Invest, 08.10.2008
[19] Pepe Escobar, There’s no business like war business, Asia Times, 30.3.2011
[20] Country Brief LIBYA, eStandardsForum, Financial Standards Foundation, 30.7.2010
[21] Ronald Bruce St John, The Changing Libyan Economy: Causes and Consequences, Middle East Journal, Vol. 62 No.1, Winter 2008
[22] William Wallis, Libya’s reformist PM is ousted, Financial Times, 6.3.2006.
[23] Christoph Ehrhardt, Öl in Libyen – Alle Milliarden dem Volke – „Basisvolkskongresse“ beschäftigen sich in Libyen mit der Frage, wer wie viel aus dem Ölreichtum bekommen soll., FAZ, 27.2.2009
[27]Colin Benjamin, Libya, AFRICOM, And US Scramble For Africa, Black Star News, 8.4.2011
[28] Rick Rozoff, Libyan War And Control Of The Mediterranean, Stop NATO, 25.32011
Paul Craig Roberts, New Colonialism: Washington’s Pursuit Of World Hegemony, Global Research, 31.3.2011
[29] Jean-Paul Pougala, Les mensonges de la guerre contre la Libye, Afrohistorama, 31.3.2011 / engl.: The lies behind the West’s war on Libya, Pambazuka, 14.4.2011
[33] James Petras and Robin E. Abaya, The Euro-US War on Libya: Official Lies and Misconceptions of Critics, thepeoplesvoice.org, 30.3.2011

Appell: Frieden für Libyen! Solidarität mit dem libyschen Volk!

Frieden für Libyen! Solidarität mit dem libyschen Volk!
Seit mehr als zwei Monaten bombardieren die USA und andere NATO-Staaten Tag für Tag und vor allem nachts die Millionenstadt Tripolis und andere Orte in Libyen. Zugleich versuchen sie, das libysche Volk durch Beschlagnahmung seiner Gelder und durch eine Hungerblockade gefügig zu machen. Die Aggressoren mißachten alle einschlägigen Bestimmungen des Völkerrechts (Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates, Verpflichtung zu Konfliktlösungen auf dem Verhandlungswege, Verbot des Angriffskriegs usw.).
Ihr Vorwand, sie wollten „Menschenleben retten“, ist angesichts der wachsenden Dauer ihres Bombenkrieges und der steigenden Opferzahlen absurd und zynisch. Springer- und andere Konzernmedien sowie auch die öffentlich-rechtlichen Sender schweigen jedoch über die Toten, die Verstümmelten, die Zerstörungen, das Flüchtlingselend, die Vergiftung der Böden mit Uranmunition.
Der Wüstenstaat, der unter seinem Revolutionsführer Moammar al-Gaddafi seiner Bevölkerung dank der Nationalisierung seines Ölreichtums den höchsten Wohlstand in Afrika mit unentgeltlichem Bildungs- und Gesundheitswesen, mit hochentwickelten Rechten für Frauen und Kinder bieten konnte, droht in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen zu werden.
Wie in der Kolonialzeit selbstbewusst gewordene Sklaven vor den Augen ihrer Schicksalsgefährten öffentlich ausgepeitscht wurden, so wollen heute führende NATO-Staaten das libysche Volk, auch als Warnung für die Völker der Dritten Welt, mit Bomben, Raketen und gegebenenfalls militärischer Besetzung dafür bestrafen, dass es sich ihrem Diktat entzieht, seinen eigenen Entwicklungsweg geht, sich für die Einheit und Unabhängigkeit der arabischen Welt und Afrikas einsetzt und sich jeglicher Rekolonialisierung verweigert.
Wir fordern die Bundesregierung auf, keine Nutzung deutscher Einrichtungen für die Aggression zu gestatten und sich konsequent einzusetzen für

  • sofortige Einstellung aller Angriffe auf Libyen
  • sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zwischen den libyschen Bürgerkriegsparteien,
  • Aufhebung der Handels- und Wirtschaftsblockade,
  • Rückgabe der beschlagnahmten libyschen Auslandskonten.

Es ist höchste Zeit, Solidarität mit dem libyschen Volk zu zeigen.
Wir rufen alle, die sich für Frieden, Völkerrecht und Menschenrechte mitverantwortlich wissen und den Menschen der Dritten Welt verbunden fühlen, zu Protestaktionen und Demonstrationen auf: Dieser verbrecherische Angriffskrieg muss gestoppt werden.
Wer diesen Aufruf unterstützen will, wende sich bitte an die Adresse von Bernd Duschner: bernd@freundschaft-mit-valjevo.de
ErstunterzeichnerInnen:
Dr. Richard Albrecht, Autor & Editor, Bad Münstereifel – Dr. Alexander Bahar, Historiker – Dr. Friedrich-Martin Balzer, Historiker, Marburger Forum – Dr. Matin Baraki, Lehrbeauftragter an der Universität Marburg – Hartmut Barth-Engelbart, Schriftsteller und Musiker – Hans Bauer, Rechtsanwalt, Vorsitzender der Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung (GRH) e.V. Berlin – Elia Baz, 1. Vorsitzender des Deutsch-Arabischen Freundeskreis e.V. – Rolf Becker, Schauspieler – Michaela von Behm, Frankfurt/Main – Ursula Behr-Taubert, Kunstmalerin mit Leyla Taubert – Prof. Dr. Wolfgang Beutin, Schriftsteller, Privatdozent an der Universität Bremen – Heide Beutin, Wissenschaftspublizistin – Wolfgang Bittner, Schriftsteller – Volker Bräutigam, Publizist – Peter Braun, Bildhauer – Antonie Brinkmann, Bremen – Arnold Bruns, Verleger, Bonn – Elias Davidsson, Komponist und Völkerrechtler, Bonn – Franz Josef Degenhardt, Musiker und Schriftsteller, Quickborn – Kai Degenhardt, Musiker, Hamburg – Michaela Dietl, Musikerin – Bernd Duschner, „Freundschaft mit Valjevo“ – Felix Eder, Übersetzer – Petra Finsterle, Club Voltaire München – Dieter Frielinghaus, Pfarrer – Heinrich Frei – Prof. Dr. Klaus Fuchs-Kittowski, Informatiker, Berlin – Dr. Dieter Götze – Fulvio Grimaldi, Journalist und Dokumentarfilmer – Dr. Wolf-Dieter Gudopp-von Behm, Frankfurt/Main – Joachim Guilliard, Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg – Heinz-W. Hammer, Dipl. Soz. Pädagoge – Klaus Hartmann, Bundesvorsitzender des Freidenkerverbandes – Evelyn Hecht-Galinski, Publizistin – Rüdiger Göbel, stellv. Chefredakteur der „Jungen Welt“ – Christoph R. Hörstel, Regierungs- und Unternehmensberater – Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Heinz Holz, Philosoph – Silvia Holz-Markun, Journalistin – Ludwig Huber, Kunsterzieher – Claudia Karas – Dietrich Kittner, Kabarettist – Peter Kleinert, Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung – Dieter Kloszowski, Vorsitzender des Marburger Forums – Prof. Dr. Bernd Könitz, Leipzig – Siegfried Kretschmar – Brigitte Kustosch, Marburg – Prof. Dr. Domenico Losurdo, Philosoph, Präsident der int. Gesellschaft für dialektisches Denken – Dr. Wilfried Maier – Dr. Erika Maier – Prof. Dr. Thomas Metscher, Literaturwissenschaftler – Dr. Bahman Nirumand, Publizist – Prof. Dr. Kurt Pätzold, Historiker, Berlin – Doris und George Pumphrey – Klaus von Raussendorf, Publizist, Bonn – Ellen Rohlfs, Übersetzerin – Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr a. D., Publizist – Prof. Dr. Werner Roß, Zwickau – Dr. Werner Rügemer, Publizist – Erich Schaffner, Schauspieler – Prof. Dr. Andreas Schierwagen – Eberhard Schink und Karin Mittelstädt, Geschäftsführender Vorstand des Freidenkerverbandes – Einar Schlereth, Journalist – Jochen Scholz, Mitglied der „Kommission Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“, IFSH – Renate Schoof, Schriftstellerin – Dr. Erasmus Schöfer, Schriftsteller – Gabriele Senft, Fotojournalistin – Eckart Spoo, Publizist und Herausgeber des „Ossietzky“ – Dr. Robert Steigerwald, Publizist Frankfurt/Main – Armin Stolper, Schriftsteller – Frieder Wagner, Schriftsteller und Filmemacher – Prof. Dr. Ingo Wagner, Leipzig – Willy H. Wahl, seniora-org – Raymond Wilson, Astrophysiker, Kavli-Preisträger 2010 – Ingrid und Gerhard Zwerenz, Schriftsteller

Streu-Propaganda – Wer setzte Streumunition in Libyen ein?

Die westlichen Medien nahmen die Nachricht natürlich begierig auf. An den Schlagzeilen lässt sich leicht der Grad der Unterstützung des Krieges durch die verschiedenen Medien ablesen. Die Überschriften reichen von zurückhaltenden „Setzt Gaddafi Streubomben ein?“ (Hamburger Abendblatt) und „Gaddafi-Armee soll Streubomben eingesetzt haben“ (Welt) über „Gaddafi wirft Streubomben auf Wohngebiete“ (FR) zu reißerischem „Libyen: Mit Streubomben gegen Zivilisten“ (Kurier) „Streubomben-Angriff gegen libysches Volk: Gaddafi schreckt vor nichts zurück“ (Stern).
Die Behauptung „Zivilisten“ seien angegriffen worden, oder gar das gesamte „Volk“ ist völlig aus der Luft gegriffen. Laut HRW-Bericht erfolgten die mutmaßlichen Angriffe in unmittelbarer Nähe der Front zwischen Regierungstruppen und Aufständischen, wären also gegen Rebellen-Milizen gerichtet gewesen.
Es gibt jedoch starke Zweifel daran, dass die libyschen Regierungstruppen tatsächlich Streubomben einsetzten. HRW ist in solchen Umständen keine sehr zuverlässige Quelle. Die Organisation war u.a. schon im Jugoslawienkrieg durch deutliche Parteinahme zugunsten der NATO aufgefallen.
Die Beweislage ist jedenfalls äußerst dünn. Schon die Behauptung von HRW, ihre Leute seien Augenzeugen gewesen, ist unseriös. Sie waren nicht selbst unmittelbar vor Ort, sondern haben die Munitionsreste von dem Reporter Christopher John Chivers erhalten, einem ehemaligen US-Marine und Veteran des ersten Irak-Krieges 1991, der für die New York Times aus Misrata berichtet. Außer ihm gibt es nur noch zwei weitere Zeugen, die von Angriffen erzählten, bei denen es sich „offenbar“ um Streubomben handelte.
Das HWR-Team konnte nach eigenen Angaben die Fundorte der Bombenfragmente nicht untersuchen. Sie lagen direkt im umkämpften Gebiet. HRW kann somit nicht bestätigen, dass diese wirklich von dort kommen.
Weder die Augenzeugen und noch weniger HRW können bezeugen, dass die Bomben von libyschen Regierungstruppen abgefeuert wurden. Die libysche Regierung bestreitet dies energisch und versichert, keine Munition vom fraglichen Typ „MAT-120“ in ihrem Arsenal zu haben.
„Wir haben keine Streubomben in unseren Arsenalen, kein Soldat wurde jemals in der Benutzung dieser Waffen ausgebildet,“ so Generalmajor Saleh Abdallah Ibrahim „und dementsprechend können wir sie nicht einsetzen.“ Seine Armee sei das Opfer einer Medienkampagne. Die geächteten Bomben könnten nur über den Hafen von Misrata eingeschmuggelt und von den Rebellen selbst eingesetzt worden sein. (Gaddafis Armee lastet Streubomben den Rebellen an, WELT, 17.04.2011)
Die Gruppe „Human Rights Investigations“ (HRI) hat getan, was HRW versäumte und nachrecherchiert. Sie kam zum Schluss, dass in der Tat mit großer Wahrscheinlichkeit keine Streubomben vom Typ „MAT-120“ nach Libyen geliefert wurden. (Who really cluster bombed Misrata?, HRI, 24.4.2011, sowie The cluster bombing of Misrata: The case against the USA, 25.5.2011)
Die „MAT-120“ ist eine sich selbst zerstörende und neutralisierende Streubombe für 120-mm-Mörser, die 21 explodierende Granaten über ein großes Gebiet verstreut. Sie wurde bis 2008 von der spanischen Firma Instalaza hergestellt.
Die gefundene Munition wurde laut Herstellerstempel im Juli 2007 produziert. HRW selbst führt in ihrer Liste der weltweiten Streubombenarsenale Libyen nicht unter den Ländern, die Bomben von diesem oder einem ähnlichen, sich selbst zerstörenden Typ besitzen. („Types of Cluster Munitions in Global Stockpiles“, Mai 2008). Der spanische Hersteller bestreitet „MAT-120“-Bomben, an Libyen geliefert zu haben.
Die offiziellen spanischen Waffenexportberichte, die alle auf der Homepage von SIPRI archiviert sind, bestätigen Instalaza Angaben. Zwar wurden 2007/2008 für knapp 4 Millionen Euro Waffen und Rüstungsgüter an Libyen geliefert, aber keine der „Kategorie 3“, unter die, die von Geschützen abgefeuerte Munition – wie die MAT-120 Bomben – fallen würde. Zumindest auf direktem Wege können somit keine Streubomben des fraglichen Typs nach Libyen gelangt sein.
Der HRI-Recherche wird entgegengehalten, dass die Streumunition ohne weiteres über andere Länder nach Libyen gekommen sein könnte. Doch das ist äußerst unwahrscheinlich.
Schaut man sich die Waffenexportberichte noch genauer an, so stellt man nämlich fest, dass die Hauptabnehmer von Munition der Kategorie 3 die USA waren, auf die 164 Mill. des Exportumfangs von 190 Millionen Euro in dieser Kategorie entfielen.
Die spanische Regierung hat ab Juni 2008 den Export von Streubomben verboten, der Export in Kategorie 3 sank daraufhin bereits 2008 von 113 auf 76 Mill. Euro. 2009 brach er auf 5 Millionen ein und die USA kauften nur noch für schlappe 25.000 Euro Munition dieser Kategorie ein.
Offenbar hat es sich bei den früheren Kategorie-3-Exporten zum überwiegenden Teil um Streubomben gehandelt. Diese wiederum gingen 2007/2008 zu fast 90% in die USA. Andere Länder, die solche Munition in nennenswerten Mengen kauften, waren Deutschland (für 4,7 Mill. Euro), Norwegen (5,4. Mill), Saudi Arabien (6 Mill.), Polen (1,7 Mill.) Ägypten (1,2 Mill. ) und Österreich (1,1 Mill.). Es ist nahezu ausgeschlossen, dass eines dieser Länder sie an Libyen weitergab.
„Human Rights Investigations“ weist zudem daraufhin, dass zu den Waffensystemen, für die MAT-120 bestimmt sind, vor allem auch die Geschütze NEMO und AMOS der finnischen Waffenschmiede Patria Weapons System Oy (PWS) zählen, mit der Instalaza eng zusammenarbeitet. (U.a. betreiben sie gemeinsam die Weiterentwicklung der MAT-120, die Instalaza seit der Unterschrift Spaniens unter die Streubombenverbotskonvention nicht mehr selbst herstellt. Finnland hat die Konvention nicht unterzeichnet.)
Die finnischen Geschütze werden u.a. auch auf diversen Kampfbooten installiert. Einige davon gehören wiederum zum Arsenal, der im Mittelmeer operierenden US-Marineverbände. Es ist daher gut möglich, dass die fraglichen Streubomben von solchen Booten abfeuert wurden.
Auch wenn nur eine unabhängige Untersuchung klären könnte, ob Streubomben eingesetzt wurden und wenn ja, von wem, so ist das Ziel hinter der Skandalisierung „libyscher Streubomben“ klar und wurde auch von NYT-Reporter Chivers benannt: Sie gab der Forderung der britischen und französischen Regierung an die NATO-Partner nach einer Ausweitung der Angriffe gegen Libyen „mehr Dringlichkeit” und setzte die Obama-Administration Druck, sich wieder stärker am Luftkrieg zu beteiligen.
Propaganda und Heuchelei
Unabhängig davon ob libysche Truppen die mörderischen Bomben einsetzten oder nicht, sind die Medienberichte überwiegend Propaganda. Das beginnt schon beim HRW-Bericht selbst. Hier heißt es „Die meisten Länder haben durch die Konvention zur Ächtung von Streumunition den Einsatz von Streubomben in umfassender Weise verboten. Im August 2010 wurde das Abkommen bindendes internationales Recht.“ Das ist schlicht gelogen und wird durch einen späteren Absatz widerlegt. Die Streumunition ist leider bislang keineswegs „weltweit geächtet“ oder gar verboten. Nur 108 der 193 UNO-Staaten haben bis jetzt die Konvention zum Verbot von Streumunition unterzeichnet und erst 56 Länder das Verbot auch ratifiziert. Die USA, Russland und Israel haben sich erst gar nicht an den Verbotsverhandlungen beteiligt und in den jüngsten Kriegen (Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Georgien, Libanon und Gaza) eingesetzt. (Andreas Zumach, Streumunition in Libyen ist nicht völkerrechtswidrig, taz, 17.04.2011)

Für Laien Verwechslungsgefahr: Abgeworfenes Lebensmittelpaket und Streubombe in Afghanistan
Tödliche Verwechslungsgefahr: Abgeworfenes Lebensmittelpaket und Streubombe in Afghanistan (Reuters/Spiegel)

Die USA und andere NATO-Staaten haben in den letzten Kriegen über Jugoslawien, Afghanistan und Irak Tausende solcher Bomben abgeworfen, die ihre Submunition – mehrere Hunderttausend kleine Minen – über riesige Gebiete verteilten. (mehr dazu: Knut Mellenthin, Aufschrei der Heuchler, junge Welt, 18.04.2011)
Ähnlich empörte Berichte wie zu Libyen sucht man in den Medien jedoch vergeblich. Die meisten fanden dies nicht einmal eine Erwähnung wert, die anderen kritisierten den Einsatz dieser mörderischen Waffe, trotz ihrer offensichtlich verheerender Folgen, nur milde.
Human Rights Watch wirft USA sorglosen Einsatz von Streubomben vor“ überschrieb z.B. der liberale österreichischen „Standard“ am 18. Dezember 2002 eine kurzen Bericht. Obwohl im Afghanistankrieg „beim Abwurf von 1.228 Streubomben mit fast 250.000 Sprengsätzen viele Zivilisten und besonders Kinder ums Leben gekommen“ seien, wurde den USA nur vorgeworfen, „durch den Einsatz von Streubomben in Afghanistan überflüssig [!] Zivilisten gefährdet zu haben.“ Human Rights Watch forderte damals wacker „eine verbesserte Zieltechnologie, um Zivilisten zu verschonen.“
Völlig unaufgeregt schreibt die Welt am 31.10.2001 über die menschenverachtenden Verbrechen:

Aus einer über Afghanistan fliegenden C-130-Hercules-Maschine haben die US-Streitkräfte Radiosendungen ausgestrahlt, um der Bevölkerung den Unterschied zwischen abgeworfenen Essensrationen und Streubomben zu erklären. Beide sind grellgelb – mit dem Unterschied, dass es sich bei den Streubomben um jene im Schnitt zehn Prozent an Blindgängern handelt, die den Abwurf aus Mutterbomben unversehrt überstehen. Bei Herat sollen neun Menschen beim Aufheben unexplodierter Kleinbomben gestorben sein.
(siehe auch: Deutsche Minenräumerin: “Die Lage in Afghanistan ist katastrophal”, Spiegel, 3.1.2002)

Der Krieg gegen Libyen und die Rekolonialisierung Afrikas – Teil 1

Dies ist der erste von drei Teilen, in dem es um die Vorbereitungen zum und die Kräfte hinter dem Libyen-Krieg geht. Der zweite Teil behandelt die ökonomischen Interessen der westlichen Kriegsallianz in Libyen und der dritte die geostrategischen und wirtschaftlichen in der Region, sowie den Kriegsverlauf.

Eine erste, kürzere Version des ganzen Textes erschien in Heft 2/2011 der Zeitschrift „Hintergrund“ – www.hintergrund.de. Eine aktualisierte und schon etwas längere Fassung ist im Libyen-Reader des Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg enthalten (diesen gibt es hier als PDF, das aktuelle Flugblatt des Forums hier)

1. Der Weg in den Krieg

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Farhat Bengdara – ein Kollaborateur im Hintergrund betreibt die Umleitung libyschen Vermögens

Wie italienische Medien Ende April berichteten, ist der britische Bankenriese HSBC bereits in Bengasi, um den Aufbau einer neuen libyschen Zentralbank zu betreuen. (A Bengasi nasce la «Banca centrale» dei ribelli, Il Sole 24ORE, 27.4.2011). Sein italienischer Mitbewerber UniCredit folgte nun, wie Maghreb Confidential meldete, begleitet vom Ölmulti Eni, nach. (Unicredit also has an eye on Benghazi, Maghreb Confidential, 26.5.2011)

Die italienische Bankengruppe, die zweitgrößte Europas, schmiedet bereits seit längerem Pläne zum Neuaufbau eines Banksystems in der Rebellenhauptstadt Bengasi, maßgeblich vorangetrieben von ihrem Vizepräsidenten Farhat Omar Bengdara, der bis vor kurzem noch der Gouverneur der Libyschen Zentralbank war. Continue reading “Farhat Bengdara – ein Kollaborateur im Hintergrund betreibt die Umleitung libyschen Vermögens”

Michel Collon: Den Krieg in Libyen verstehen

 
Den Krieg in Libyen verstehen
Teil 2: Was sind die wahren Ziele der USA?

Von Michel Collon
An diesem Punkt unserer Überlegungen angelangt, können wir aufgrund mehrerer Tatsachen die These vom humanitären Krieg oder einer impulsiven Reaktion auf die Ereignisse als endgültig widerlegt betrachten. Wenn Washington und Paris jegliche Verhandlungen entschlossen abgelehnt haben, wenn sie bereits seit einiger Zeit am Aufbau der libyschen Opposition „gearbeitet“, detaillierte Konzepte für eine Intervention vorbereitet hatten und sich ihre Flugzeugträger bereits seit längerer Zeit für eine Intervention bereit hielten (wie es US-Admiral Gary Roughead, Chef der US-Seestreitkräfte bestätigt hat: „Unsere Streitkräfte waren bereits gegen Libyen positioniert“, Washington, 23. März), dann bedeutet das zwangsläufig: Dieser Krieg wurde nicht im letzten Augenblick als Reaktion auf überraschend eingetretene Ereignisse beschlossen. Er war im Gegenteil geplant. Mit ihm werden Ziele verfolgt, die über die Person Gaddafis weit hinausgehen. Welche Ziele sind das?
Die Ziele der USA gehen über das Öl weit hinaus
In diesem Krieg gegen Libyen verfolgen die USA gleichzeitig mehrere Ziele:
1. Kontrolle über das Erdöl.
2. Sicherheit für Israel.
3. Verhinderung der Befreiung der arabischen Welt.
4. Verhinderung der afrikanischen Einheit.
5. Installierung der Nato als Gendarm für Afrika.
Das sind viele Ziele? Jawohl, wie bei den vorhergehenden Kriegen gegen den Irak, Jugoslawien und Afghanistan. Ein Krieg dieser Art ist teuer und mit großen Risiken für das Ansehen der USA verbunden, vor allem, wenn sie ihn nicht gewinnen sollten. Wenn Obama einen solchen Krieg angezettelt hat, dann weil er sich davon große Vorteile verspricht.
Ziel 1: Kontrolle über das gesamte Erdöl
Manche sagen, es handle sich dieses Mal nicht um einen Krieg um Erdöl. Der Anteil des libyschen Erdöls an der Weltproduktion sei unbedeutend. Zudem habe Gaddafi bereits Öl an die Europäer verkauft. Sie haben das Wesen des „Weltkrieges um das Erdöl“ nicht verstanden. Mit der Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus wird die Auseinandersetzung zwischen den Wirtschaftsmächten immer verbissener geführt. Bei diesem Spiel geht es um hohe Einsätze: Um den eigenen Multis einen Platz am Spieltisch zu sichern, muss jede Großmacht an allen Fronten kämpfen: Märkte erobern, Regionen mit profitablen Arbeitskräften unter ihre Kontrolle bringen, sich große öffentliche und private Aufträge verschaffen, sich Handelsmonopole sichern, Staaten, die ihr Vorteile bieten können, unter ihre Kontrolle bringen. Vor allem aber muss sie sich die Kontrolle über die begehrten Rohstoffe sichern, allen voran über das Erdöl.
2000 haben wir in unserem Buch „Monopoly“ die kommenden Kriege analysiert und geschrieben: „Wer die Welt beherrschen will, muss die Kontrolle über das Erdöl gewinnen und zwar über das gesamte Erdöl, wo immer es sich befindet.“ Wenn ihr eine Großmacht seid, kann es euch nicht genügen, nur die eigene Ölversorgung zu sichern. Ihr würdet mehr wollen, das Maximum. Nicht nur wegen der enormen Gewinne, sondern weil ihr mit einem Monopol in der Lage wäret, es euren stärksten Konkurrenten zu entziehen bzw. sie zu zwingen, eure Konditionen zu akzeptieren.
Ihr würdet über die stärkste Waffe verfügen. Erpressung? Jawohl! Seit 1945 haben die USA haben alles getan, um sich das Monopol über das Öl zu verschaffen. Ein Rivale wie Japan beispielsweise war für seine Energieversorgung zu 95% von den USA abhängig. Damit war sein Gehorsam gesichert. Aber die Kräfteverhältnisse ändern sich. Die Welt wird multipolar. Die USA sehen sich heute mit einem erstarkenden China, einem wiedererstarkenden Russland, dem Aufstieg Brasiliens und anderer Länder des Südens konfrontiert. Es wird zunehmend schwieriger, das Monopol aufrecht zu erhalten.
Das libysche Öl macht nur 1-2% der Weltproduktion aus? Einverstanden, aber es ist von bester Qualität, einfach zu gewinnen und folglich hoch rentabel. Zudem liegt das Land in unmittelbarer Nähe von Italien, Frankreich und Deutschland. Öl aus dem Vorderen Orient, Schwarzafrika oder Lateinamerika zu importieren, ist mit viel höheren Kosten verbunden. Wir haben es also ganz offenkundig mit einem Kampf um das schwarze Gold Libyens zu tun. Das gilt ganz besonders für Frankreich. Dieses Land hatte am stärksten auf die mittlerweile allzu riskant erscheinende Atomenergie gesetzt.
In diesem Zusammenhang ist es nötig, an zwei Tatsachen zu erinnern: 1. Gaddafi wollte den Anteil des libyschen Staates am Öl von 30 auf 51% erhöhen. 2. Am 2. März hatte Gaddafi darüber geklagt, dass die Ölproduktion seines Landes auf sein niedrigstes Niveau gefallen sei. Er hatte angedroht, die westlichen Firmen, die Libyen verlassen hatten, durch chinesische, russische und indische Gesellschaften zu ersetzen. Ist es ein Zufall? Immer dann, wenn ein afrikanisches Land anfängt, sich China zuzuwenden, bekommt es Probleme.
Noch ein weiterer Hinweis: Ali Zeidan ist der Mann, der die Zahl von den 6.000 toten Zivilisten lanciert hat, die Opfer der Bombardierungen Gaddafis geworden seien. Er ist gleichzeitig der Sprecher der Übergangsregierung, also der oppositionellen Regierung, die von Frankreich anerkannt wurde. In dieser Funktion hat Ali Zeidan erklärt, „die unterzeichneten Verträge werden eingehalten“. Die zukünftige Regierung, „werde jedoch die Nationen berücksichtigen, die uns geholfen haben.“ Wir haben es also ganz offensichtlich mit einem weiteren Krieg um das Erdöl zu tun. Allerdings wird er nicht nur gegen Libyen geführt.
Woher kommt die Rivalität zwischen USA, Frankreich und Deutschland?
Wenn der Krieg gegen Libyen nur humanitären Charakter hätte, wären die Auseinandersetzungen zwischen den kriegführenden Staaten nicht nachzuvollziehen. Warum hat sich Sarkozy beeilt, als erster mit den Bombardements zu beginnen? Warum war er so verärgert, als die Nato die Führung der Kriegsoperationen übernehmen wollte? Sein Argument, „die Nato sei in den arabischen Ländern nicht populär“, kann man nicht ernst nehmen. Als ob er, Sarkozy, der Israel und Ben Ali unterstützt hat, so populär wäre! Warum waren Deutschland und Italien so zurückhaltend bei diesem Krieg? Warum hatte der italienische Minister Frattini zunächst erklärt, man müsse „die Souveränität und Integrität Libyens verteidigen“ und „Europa dürfe nicht die Demokratie nach Libyen exportieren“? [1]
Nur unterschiedliche Ansichten, wie humanitäre Unterstützung effektiv gestaltet werden kann? Nein, auch hier werden ökonomische Interessen deutlich. Europa steckt in einer Krise. Die Rivalitäten werden zunehmend stärker. Noch vor einigen Monaten drängelte man sich nach Tripolis, um Gaddafi zu umarmen und große Verträge mit Libyen abzuschließen. Diejenigen, die dabei erfolgreich waren, hatten kein Interesse, die Verträge wieder in Frage zu stellen. Ganz im Gegensatz zu denen, die leer ausgegangen waren! Wer war der Hauptkunde für libysches Öl? Italien. Wer stand an zweiter Stelle? Deutschland. Schauen wir uns die Investitionen und Exporte der europäischen Mächte an.
Wer hatte die meisten Verträge in Libyen erhalten? Italien. Wer stand an zweiter Stelle? Deutschland. Das deutsche Unternehmen BASF war mit Investitionen von zwei Milliarden Euro der wichtigste Ölproduzent in Libyen geworden. Die deutsche Firma DEA, Tochter des Energiegiganten RWE, hatte mehr als 40.000 Quadratkilometer Erdöl- und Erdgaslagerstätten erhalten. Das deutsche Unternehmen Siemens hatte den Löwenanteil an den gewaltigen Investitionen für das gigantische Projekt „Great Man Made River“ bekommen: Es handelt sich dabei um das größte Bewässerungsprojekt der Welt, ein Netz von Pipelines, mit denen Wasser aus den wassertragenden Schichten Nubiens bis an die Saharawüste herangeführt wird. Zu ihm gehören über 1300 Brunnen, die oft mehr als 500 Metern tief sind. Nach Beendigung aller Arbeiten werden sie Tripolis, Bengazi, Syrte und andere Städte täglich mit mehr als 6,5 Millionen Kubikmeter Wasser beliefern.[2] 25 Milliarden Dollar haben Gierige angelockt. Zudem hatte Libyen mit seinen Öl-Milliarden ein äußerst ehrgeiziges Programm eingeleitet, um seine Infrastruktur zu erneuern, Schulen und Krankenhäuser zu bauen und das Land zu industrialisieren.
Dank seiner wirtschaftlichen Stärke hat sich Deutschland in Libyen, Saudi Arabien und den arabischen Golfstaaten eine Position privilegierter wirtschaftliche Zusammenarbeit sichern können. Keineswegs möchte es sein Ansehen in der arabischen Welt beschädigen. Was Italien betrifft, muss an die ungeheure Brutalität erinnert werden, mit der es Libyen einst kolonisiert hatte. Dabei stützte es sich auf die Stämme im Westen gegen die Stämme im Osten. Heute haben die italienischen Unternehmen dank Berlusconi einige schöne Verträge erhalten. Sie haben folglich viel zu verlieren.
Im Gegensatz zu ihnen, haben Frankreich und England nicht die besten Stücke vom Kuchen abbekommen. Sie sind vorne dabei, um eine Neuverteilung des Kuchens zu erreichen. Der Krieg in Libyen ist nur die Fortführung der ökonomischen Auseinandersetzung mit anderen Mitteln.
Die kapitalistische Welt ist nicht wirklich schön. Der wirtschaftliche Kampf verlagert sich auf die militärische Ebene. In einem Europa, das in einer Krise steckt und von einem (vor allem dank seiner Politik der niedrigen Löhne) sehr leistungsstarken Deutschland dominiert wird, hat Frankreich sein Bündnis gebrochen. Es wendet sich jetzt Großbritannien zu, um ein verändertes Gleichgewicht zu erreichen. Paris und London haben mehr militärische Mittel als Berlin. Sie versuchen diese Karte auszuspielen, um ihre wirtschaftliche Schwäche auszugleichen.
Ziel 2: Israel sichern
Im Nahen Osten hängt alles miteinander zusammen. Noam Chomsky hat uns in einem Gespräch erklärt: „Seit 1967 hat die US-Regierung Israel als eine strategische Investition betrachtet. Es war ein örtliches Polizeikommissariat und hatte die Aufgabe, die Diktaturen in den ölproduzierenden arabischen Ländern zu schützen.“ [3] Israel ist der Polizist für den Mittleren Osten.
Das neue Problem für Washington besteht darin, dass Israel wegen seiner zahlreichen Verbrechen (Angriffe auf Libanon, Gaza, Flotte mit humanitärer Hilfe) zunehmend isoliert ist. Die arabischen Völker fordern das Ende dieses Kolonialismus. Folglich braucht der Polizist Schutz. Israel kann nur solange überleben, wie es von arabischen Diktaturen umgeben ist, die den Wunsch ihrer Völker nach Solidarität mit den Palästinensern missachten.
Das ist ein Grund, warum Washington Mubarak und Ben Ali unterstützt hat und die anderen Diktatoren weiter unterstützen wird. Die USA befürchten, in den kommenden Jahren Tunesien und Ägypten zu verlieren“. Dadurch würden sich die Kräfteverhältnisse in der Region verändern.
Nach dem Krieg gegen den Irak 2003, der auch als Warnung und zur Einschüchterung der anderen arabischen Führer dienen sollte, hatte Gaddafi die drohende Gefahr erkannt. Er hatte deshalb seine Zugeständnisse gegenüber den Westmächten und ihren neoliberalen Forderungen vergrößert. Dabei ging er manchmal zu weit. Das hat seinen sozialen Rückhalt geschwächt. Man kann Forderungen des IMF [4] nicht nachgeben, ohne seiner eigenen Bevölkerung Schaden zuzufügen. Aber sollten sich morgen Tunesien und Ägypten nach links wenden, wird Gaddafi zweifellos in der Lage sein, diese Zugeständnisse zurückzunehmen. Eine Achse des Widerstands aus Kairo, Tripolis und Tunis, die sich den USA nicht fügt und entschlossen ist, Israel zum Nachgeben zu zwingen, wäre ein Alptraum für Washington. Der Sturz Gaddafis soll dies noch rechtzeitig verhindern.
Ziel 3: Die Befreiung der arabischen Welt verhindern
Wer regiert heute über die gesamte arabische Welt, seine Wirtschaft, seine Ressourcen, sein Öl? Das sind bekanntlich nicht die arabischen Völker und auch nicht die örtlichen Diktatoren. Sie stehen vorne auf der Bühne. Die eigentlichen Machthaber aber sitzen hinter den Kulissen. Es sind dies die USA und die europäischen Multis. Sie bestimmen, was in diesen Ländern produziert oder nicht produziert wird, welche Löhne gezahlt werden, wem die Gewinne aus dem Öl zufließen und welche politischen Führer in diesen Ländern eingesetzt werden. Es sind die Multis, die ihre Aktionäre auf dem Rücken der arabischen Bevölkerung reich werden lassen.
Für die ganze arabische Welt haben die aufgezwungenen Diktaturen schwerwiegende Konsequenzen: das Öl und die anderen natürlichen Ressourcen dienen nur dem Profit der Multis. Sie werden nicht dazu verwandt, die dortige Wirtschaft zu diversifizieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem erzwingen die Multis im Tourismus, bei den Betrieben der kleinen Industrie und dem Dienstleistungssektor, die ihnen als Subunternehmen dienen, niedrige Löhne.
Als Folge bleiben diese Volkswirtschaften abhängig, weisen verzerrte Strukturen auf und sind nicht ausgerichtet auf die Bedürfnisse der Bevölkerung. In den kommenden Jahren wird sich die Arbeitslosigkeit noch verschärfen, sind doch 35% der Araber jünger als 35 Jahre. Die Diktatoren sind Handlanger der Multis. Ihre Aufgabe ist es, deren Profite zu sichern und Widerstand zu brechen. Sie haben soziale Gerechtigkeit zu verhindern.
Die 300 Millionen Araber sind auf 20 Länder aufgeteilt. Zu Recht betrachten sie sich als eine Nation. Sie stehen vor einer entscheidenden Wahl: die Aufrechterhaltung des Kolonialismus zu akzeptieren oder unabhängig zu werden. Dazu müssen sie einen neuen Weg einschlagen. Die ganze Welt um sie ist im Umbruch: China, Brasilien und andere Länder emanzipieren sich politisch. Das ermöglicht ihnen wirtschaftlichen Fortschritt.
Wird die arabische Welt zurückbleiben? Wird sie eine Dependance der USA und Europa bleiben? Werden sie die arabische Welt weiter als Waffe für sich in den großen internationalen politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen gegen die anderen Nationen einsetzen können? Oder wird endlich die Stunde der Befreiung für die arabische Welt schlagen? Diese Vorstellung versetzt die Strategen in Washington in Schrecken. Wenn ihnen die arabische Welt und ihr Öl aus der Hand entgleiten, ist es zu Ende mit ihrer Herrschaft über den Planeten.
Die USA sind eine Macht, die sich in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht im Abstieg befindet. Bereits jetzt wird ihre Vorherrschaft zunehmend von Deutschland, Russland, Lateinamerika und China in Frage gestellt. Dazu kommt, dass viele Staaten im Süden ihre Beziehungen untereinander intensivieren möchten. Für sie sind diese Beziehungen viel vorteilhafter als die Abhängigkeit von den USA. Die USA haben es zunehmend schwerer, ihre Position als größte Weltmacht aufrecht zu erhalten. Diese Position ermöglicht es ihnen, ganze Nationen auszuplündern und den Krieg überall dort hinzutragen, wo sie es möchten.
Wiederholen wir es: wenn sich morgen die Arabische Welt vereint und befreit, wenn die USA das Öl als Waffe verlieren, werden sie in einer multipolaren Welt nur noch eine zweitrangige Macht sein. Für die Menschheit wird dies ein großer Fortschritt sein: die internationalen Beziehungen werden neue Wege gehen. Die Völker im Süden werden endlich selbst über ihr Schicksal entscheiden können und mit der Armut Schluss machen.
Für wen die Demokratie gefährlich ist
Die Kolonial- und Neokolonialmächte von gestern schwören uns, dass sie sich geändert haben. Nachdem sie Ben Ali, Mubarak und Co. finanziert, bewaffnet, beraten und beschützt haben, überschütten uns jetzt USA, Frankreich und die anderen mit Erklärungen, die auf uns Eindruck machen sollen. So beispielsweise Hillary Clinton: „Wir unterstützen das Streben der arabischen Völker nach Demokratie.“
Das ist total verlogen. Die USA und ihre Verbündeten wollen auf keinen Fall eine arabische Demokratie, sie möchten auf keinen Fall, dass die Araber über ihr Öl und ihre andere Reichtümer entscheiden können. Sie haben deshalb alles getan, um die Demokratisierung zu bremsen und die Verantwortlichen des alten Regimes an der Macht zu halten. Wenn das scheitert, tun sie alles, den Bevölkerungen an deren Stelle neue Führer aufzuzwingen, die für sie den Widerstand des Volkes aufzulösen haben. Die Machthaber in Ägypten ergreifen gerade die brutalsten Maßnahmen gegen Streiks.
Den Krieg gegen Libyen mit der Vorstellung erklären zu wollen, Washington und Paris seien nach der Erfahrung mit Tunesien und Ägypten „zur Einsicht gekommen“, wollten sich ein gutes Gewissen schaffen oder zumindest ihr Image aufpolieren, ist nichts anderes als ein großer Trugschluss. Tatsächlich ist die westliche Politik gegenüber der arabischen Welt als ein Ganzes zu sehen.
Sie wird mit drei Maßnahmen umgesetzt:
1. Aufrechterhaltung der repressiven Diktaturen.
2. Mubarak und Ben Ali werden von Figuren ersetzt, die man unter Kontrolle hat.
3. Sturz der Regierungen in Tripolis, Damaskus und Teheran, um diese „verloren gegangenen“ Länder wieder zu kolonisieren.
Die drei Maßnahmen haben ein gemeinsames Ziel: die arabische Welt unter der eigenen Herrschaft zu halten, um sie weiter ausplündern zu können. Demokratie ist gefährlich, wenn man nur die Interessen einer sehr kleinen gesellschaftlichen Minderheit repräsentiert. Es macht den USA Angst, dass die soziale Unzufriedenheit in fast allen arabischen Diktaturen ausgebrochen ist:
Im Irak (unsere Medien haben darüber nichts berichtet) haben zahlreiche Streiks die Öl- und Textilindustrie, die Energieversorgung und anderen Sektoren erfasst. In Kut haben die US-Truppen eine Textilfabrik, die sich im Streik befand, umzingelt. In 16 der 18 Provinzen wurde unter Beteiligung aller Volksgruppen gegen die korrupte Regierung demonstriert, die das Volk in seinem Elend im Stich lässt.
In Bahrain war der König unter dem Druck der Straße gezwungen, jeder Familie eine Sonderzahlung von 2.650 Dollar zu versprechen. In Oman hat der Sultan Qaboos bin Said die Hälfte seiner Regierung ausgewechselt, das Mindestgehalt um 40% erhöht und Anweisung gegeben, 50.000 Arbeitsplätze zu schaffen. Selbst König Fahd von Saudi Arabien musste 36 Milliarden Dollar frei machen, um damit Familien mit mittleren und niedrigen Einkommen zu helfen!
Bei allen einfachen Menschen warf dies unvermeidlich die Frage auf: wenn sie alles dieses Geld hatten, warum haben sie es in ihren Tresoren verschlossen gehalten? Die nächste Frage lautete: Wie viele weitere Milliarden haben sie mit Unterstützung der USA ihren Völkern geraubt? Und die letzte Frage heißt: Wie kann dieser Raub beendet werden?
„Revolution Facebook“ – großes Komplott der USA oder wirkliche Revolution?
Über das Internet hat sich eine falsche Vorstellung verbreitet: die arabischen Revolutionen seien von den USA in Gang gesetzt und gesteuert gewesen. Die USA hätten die Fäden gezogen, um gut kontrollierte Veränderungen zu bewerkstelligen und Libyen, Syrien und den Iran angreifen zu können. Alles sei „fabriziert“ gewesen.
Das Argument für diese These: mehr oder weniger offizielle Organe hätten arabische Internetaktivisten in die USA eingeladen und ausgebildet. Diese hätten bei der Verbreitung von Informationen eine entscheidende Rolle gespielt. Sie würden eine neue Form der Revolution symbolisieren, die „Revolution Facebook“. Diese Vorstellung von einem großen Komplott lässt sich nicht aufrechterhalten.
In Wirklichkeit haben die USA alles getan, um Mubarak, der für sie ein nützlicher Diktator war, möglichst lang an der Macht zu halten. Die USA taten dies obwohl sie wussten, dass er gesundheitlich geschwächt und „erledigt war“. In einer solchen Situation bereiten sie selbstverständlich einen Plan B und einen Plan C vor. Der Plan B sah vor, Mubarak durch einen seiner Mitarbeiter zu ersetzen. Angesichts der aufgestauten Wut des ägyptischen Volkes hatte der Plan wenig Aussicht auf Erfolg. Folglich hatten sie auch einen Plan C, d.h. mehrere Pläne C.
So praktizieren sie es übrigens in fast allen Ländern, die sie unter Kontrolle halten möchten. Worin besteht dieser Plan? Sie kaufen sich im Voraus einige Oppositionelle und Intellektuelle. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese sich darüber im Klaren sind und „investieren“ in deren Zukunft. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, rücken sie diese Leute auf der Bühne in den Vordergrund. Wie lange das in einer Situation funktioniert, in der die Bevölkerung wach geworden ist, und das Regime trotz neuer Fassade ihre Forderungen nicht einlösen kann, ist eine andere Frage.
Schließlich ist es seine Aufgabe, die Ausbeutung der Menschen aufrechtzuerhalten. Von einer „Facebook“-Revolution zu sprechen, ist jedoch ein Mythos, der den Interessen der USA dient. So sehr wir seit langer Zeit auf die entscheidende Bedeutung der neuen Formen der Information und Mobilisierung über das Internet hingewiesen haben, ist es doch eine absurde Vorstellung, Facebook würde die sozialen Kämpfe und Revolutionen ersetzen. Diese Vorstellung kommt den Großkapitalisten (deren Repräsentant Mubarak war) gelegen. Was sie vor allem fürchten, ist der Widerstand der Arbeiter, weil durch ihn die Quelle ihrer Profite unmittelbar bedroht wird.
Die Rolle der Arbeiter
Facebook ist ein Instrument in der Auseinandersetzung, es ist aber nicht die Grundlage der Revolution. Obige Darstellung zielt darauf ab, die Rolle der Arbeiterklasse (im weitesten Sinn) zu verdecken, die angeblich durch das Internet ersetzt werde. In Wirklichkeit ist die Revolution ein Kampf, bei dem die unten denen oben die Macht nehmen. Sie ist mit tiefgehenden Veränderungen verbunden, nicht nur in der politischen Führungsschicht, sondern vor allem in den gesellschaftlichen Beziehungen, die heute die Ausbeutung ermöglichen.
Hört man auf unsere großen offiziellen Ideologen, dann dürften wir schon seit längerer Zeit den Begriff „Klassenkampf“ nicht mehr benutzen. Er wäre überholt, ja peinlich. Pech für sie, dass sich der zweitreichste Mann der Welt, der Bankier Warren Buffet, bereits vor einiger Zeit an diese Vorgabe nicht gehalten hat. Er erklärte: „Einverstanden. Es gibt Klassenkampf in Amerika. Aber meine Klasse führt ihn, die Klasse der Reichen, und wir gewinnen ihn…“ [5] Mister Buffet, man sollte nie so sicher vor dem Ende des Spiels sein! Gut lacht, wer zuletzt lacht.
Die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten bestätigen in Übereinstimmung mit Mister Buffet die Realität des Klassenkampfes. Wann hat Ben Ali seine Koffer gepackt? Am 14. Januar, als sich die tunesischen Arbeiter im Generalstreik befanden. Wann hat Mubarak seinen Thron verlassen? Als ein mächtiger Streik der ägyptischen Arbeiter die Textilindustrie, das Postwesen und selbst die offiziellen Medien zum Stillstand brachte.
Joel Beinin, Professor an der Universität von Stanford und früherer Direktor an der amerikanischen Universität in Kairo erklärte dazu: „In diesen letzten zehn Jahren hat es eine enorme Welle sozialer Proteste gegeben.
Mehr als 2 Millionen Arbeiter haben an über 3000 Streiks, Sit-ins und anderen Protestformen teilgenommen. Das war der Hintergrund der revolutionären Erhebung der letzten Wochen. In den letzten Tagen jedoch konnte man Zehntausende Arbeiter sehen, die ihre ökonomischen Forderungen mit der Forderung nach Abschaffung des Mubarak-Regimes verbunden hatten.“ [6]
Die arabische Revolution hat erst begonnen. Nach den ersten Erfolgen des Volkes versucht die herrschende Klasse, die nach wie vor an der Macht ist, es mit einigen kleinen Zugeständnissen zu beruhigen. Obama wollte, dass sich die Straßen möglichst schnell beruhigen und alles wie zuvor bleibt. Das kann für einige Zeit funktionieren, aber die arabische Revolution ist auf dem Marsch. Sie kann Jahre brauchen, aber es wird schwierig sein, sie zu stoppen.
Ziel 4: Die afrikanische Einheit verhindern
Afrika ist der reichste Kontinent der Erde mit gewaltigen natürlichen Ressourcen. Gleichzeitig ist Afrika auch der ärmste Kontinent. 57% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, das heißt, von weniger als 1,25 Dollar pro Tag.
Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Der Grund ist, die Multis bezahlen diese Rohstoffe nicht. Sie stehlen sie. Sie plündern die Ressourcen Afrikas, erzwingen niedrige Löhne, Handelsabkommen, die für Afrika mit Nachteilen verbunden sind, Privatisierungen, die Afrika schädigen. Sie üben jede Form von Druck und Erpressung auf die schwachen Staaten aus, erwürgen sie mit einer Schuldenlast, für die es keine Rechtfertigung gibt, installieren willfährige Diktatoren, provozieren Bürgerkriege in den Regionen, die sie am meisten begehren.
Afrika hat für die Multis eine strategische Bedeutung. Ihr Reichtum basiert auf der Plünderung dieser Ressourcen. Würden angemessene Preise für Gold, Kupfer, Platin, Coltan, Phosphat, Diamanten und die landwirtschaftlichen Produkte bezahlt, wären die Multis viel weniger reich und die lokale Bevölkerung könnte ihre Armut überwinden. Für die Multis in den USA und Europa ist es deshalb entscheidend, zu verhindern, dass sich Afrika vereint und emanzipiert. Afrika soll abhängig bleiben.
Ein Beispiel hat der afrikanische Autor Jean Paul Pougala schön dargelegt:

„Es begann 1992, als 45 afrikanische Staaten die RASCOM (Regional African Satellite Communication Organization) gründeten. Afrika sollte seinen eigenen Satelliten bekommen und dadurch die Kommunikationskosten auf dem Kontinent deutlich gesenkt werden. Damals waren Telefonate nach oder aus Afrika die teuersten auf der Welt. Das lag an den jährlichen Gebühren von 500 Millionen Dollar, die Europa für die Nutzung seiner Satelliten wie Intelsat selbst für Inlandsgespräche verlangte. Ein eigener afrikanischer Satellit hätte nur 400 Millionen Dollar gekostet und dem Kontinent die jährlichen Gebühren von 500 Millionen erspart. Welcher Banker würde ein solches Projekt nicht finanzieren? Aber das größte Problem war: Wie soll sich ein Sklave von der Ausbeutung durch seinen Herrn befreien können, wenn er dazu eben diesen Herrn um Unterstützung bitten muss?
In der Tat hielten Weltbank, Internationale Währungsfonds, die USA und Europa die Afrikaner über 14 Jahre hinweg mit vagen Versprechungen hin. Gaddafi hat 2006 dieses sinnlose Betteln bei den westlichen »Wohltätern« mit ihren exorbitanten Zinssätzen beendet. Der libysche Staatsführer legte 300 Millionen Dollar auf den Tisch. Die Afrikanische Entwicklungsbank steuerte weitere 50 Millionen bei. Die Westafrikanische Entwicklungsbank beteiligte sich mit 27 Millionen. So bekam Afrika am 26. Dezember 2007 seinen ersten Kommunikationssatelliten. Anschließend stellten China und Russland ihre Technologie zur Verfügung und halfen beim Start von Satelliten für Südafrika, Nigeria, Angola, Algerien. Ein zweiter Satellit für ganz Afrika wurde im Juli 2010 ins All geschossen. Der erste Satellit, dessen Technologie zu 100% aus Afrika kommt und in Afrika, vor allem in Algerien, hergestellt wird, ist für 2020 geplant. Man erwartet, dass dieser Satelliten mit den Besten in der Welt konkurrieren kann und nur ein Zehntel kostet. Eine echte Herausforderung!

Eine symbolische Geste von lediglich 300 Millionen Dollar hat so das Leben für einen ganzen Kontinent verändert. Durch Gaddafis Libyen hat der Westen nicht nur die 500 Millionen Dollar pro Jahr verloren, sondern auch die Milliarden an Schulden und Zinszahlungen, die für den ursprünglichen Kredit in alle Ewigkeit in exponentieller Weise zu zahlen gewesen wären. Sie hätten dazu beigetragen, das verdeckte System der Ausbeutung des Kontinents aufrecht zu erhalten.
Es war das Libyen Gaddafis, das ganz Afrika seine erste wirkliche Revolution in der modernen Zeit ermöglichte: die Erschließung des ganzen Kontinents für Telefon, Fernsehen, Radio und viele andere Anwendungsbereiche, wie Telemedizin und Fernstudium. Zum ersten Mal gibt es dank des WiMax-Systems [7] kostengünstige Internetverbindungen über den ganzen Kontinent bis in die ländlichen Zonen.“ [8]
Das ist eine Information, die man uns über den bösen Gaddafi nicht erzählt hat! Dass er den Afrikaner half, sich von der erstickenden Bevormundung durch den Westen zu befreien. Gibt es noch andere Informationen dieser Art, die man verschwiegen hat?
Gaddafi hat den IWF herausgefordert und Obama macht auf Taschendieb
Jawohl! Gaddafi hat die Entwicklung des „Afrikanischen Währungsfonds“ (AWF) unterstützt. Er hat somit das Verbrechen begangen, den „Internationalen Währungsfonds“ (IWF) herauszufordern.
Es ist bekannt, dass der IWF die Entwicklungsländer voll erpresst. USA und Europa kontrollieren und Dominique Strauss-Kahn leitet ihn. Der IWF verleiht nur Geld an Entwicklungsländer, wenn sie bereit sind, ihre Unternehmen zum Profit der Multis zu verkaufen, Aufträge vergeben, die ihnen selbst keinen Nutzen bringen und ihre Gesundheits- und Bildungsausgaben senken. Kurz, den IWF als Bankier zu haben, bringt erheblichen Schaden.
Nun gut. Genauso wie die Südamerikaner ihre eigene Bank, die Banco del Sur, gegründet haben, um den anmaßenden Erpressungen des IWF die Stirn bieten zu können und selbst zu entscheiden, welche Projekte für sie nützlich sind und sie finanzieren wollen, so würde der Afrikanische Währungsfonds (AWF) den Afrikanern mehr Unabhängigkeit bringen. Wer aber finanziert den AWF? Algerien hat 16 Milliarden beigesteuert, Libyen 10 Milliarden, zusammen sind das 62% seines Kapitals.
Unter größtem Stillschweigen der Medien hat Obama dem libyschen Volk einfach 30 Milliarden gestohlen. Wie ist das abgelaufen? Am 1. März (also vor der UN-Resolution), gab er dem US-Schatzministerium die Anweisung, die Guthaben Libyens in den USA einzufrieren. Am 17. März hat man dafür gesorgt, dass ein kleiner Satz in die Resolution 1973 aufgenommen wurde. Er gibt die Ermächtigung, die Vermögen der libyschen Zentralbank und zusätzlich der staatlichen libyschen Erdölgesellschaft einzufrieren.
Man weiß, dass Gaddafi ein Vermögen aus den Öleinkünften gebildet hat. Diese Gelder haben es ihm ermöglicht, in große europäische Gesellschaften und in bedeutende afrikanische Entwicklungsprojekte zu investieren (vielleicht auch in bestimmte Wahlkämpfe in Europa, aber das scheint keine wirksame Lebensversicherung zu sein). Kurz, Libyen ist ein äußerst reiches Land (mit Währungsreserven in Höhe von 200 Milliarden Dollar).
Das hat die Begehrlichkeit einer hochverschuldeten Macht geweckt, der USA. Um einige Dutzend Milliarden Dollar der libyschen Nationalbank für sich abzuzweigen, kurz, sie dem libyschem Volk zu stehlen, hat Obama diesem Geld einfach die Bezeichnung „mögliche Quelle für die Finanzierung des Regime Gaddafi“ gegeben und die Sache war erledigt. Ein waschechter Dieb.
Trotz aller seiner Bemühungen, den Westen mit zahlreiche Zugeständnissen gegenüber dem Neoliberalismus zu besänftigen, war Gaddafi für die Herrschenden in den USA schon immer ein Grund zur Sorge. Ein Telegramm der US-Botschaft in Tripolis vom November 2007 beklagt sich über diesen Widerstand: „Die Leute, die über die politische und wirtschaftliche Orientierung Libyens entscheiden, verfolgen im Energiesektor eine zunehmend nationalistische Politik.“ Die generelle Verweigerung von Privatisierungen, berechtigt dies zu Bombardierungen? Der Krieg ist ganz offensichtlich die Fortführung wirtschaftlicher Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln.
Ziel 5: Die Nato als Gendarm in Afrika installieren
Am Anfang sollte die Nato Europa vor der „sowjetischen militärischen Bedrohung“ schützen“. Folglich hätte die Nato nach dem Ende der Sowjetunion ebenfalls verschwinden müssen. Aber das Gegenteil trat ein. Nach der Bombardierung in Bosnien 1995 erklärte Javier Solana, Generalsekretär der Nato: „Die in Bosnien gewonnenen Erfahrungen werden uns als Model für zukünftige Operationen dienen können.“
In dieser Zeit hatte ich geschrieben: „Die Nato fordert klar gesagt, überall tätig werden zu können. Jugoslawien war ein Experimentierfeld, um die nächsten Kriege vorzubereiten. Wo werden diese stattfinden?“ [9]
Folgende Antwort schlug ich vor: „Bereich 1: Osteuropa. Bereich 2: Mittelmeer und Naher Osten. Bereich 3: Die dritte Welt generell.“ Heute sind wir dort angelangt. Dieses Programm wird heute durchgeführt. Bereits 1999 bombardierte die Nato Jugoslawien. Dieser Krieg hatte das Ziel, das Land dem Neoliberalismus zu unterwerfen. So wie wir es vorausgesehen hatten.
Als ich die Analysen von US-Strategen studierte, unterstrich ich folgenden Satz von Stephen Blank. Er gehört zu diesen Strategen: „Die Missionen der Nato werden immer mehr außerhalb ihres eigenen Bereiches stattfinden. Ihre Hauptaufgabe wird es sein, als Instrument für die Einvernahme von immer mehr Regionen in die westliche Gemeinschaft zu dienen, in den Bereich ihrer Ökonomie, Politik, Kultur und ihren Sicherheitsbereich.“ [10] D.h., immer mehr Regionen für den Westen zu unterwerfen! Damals schrieb ich: „Die Nato ist eine Armee im Dienste der Globalisierung, eine Armee der multinationalen Konzerne. Schritt für Schritt verwandelt sich die Nato effektiv zum Gendarmen für die ganze Welt.“ [11]
Als die nächsten wahrscheinlichen Ziele der Nato nannte ich: Afghanistan, den Kaukasus, die Rückkehr in den Irak, als den Einstieg. Heute, wo alles das tatsächlich passiert ist, fragen mich manche: „Liest du aus einer Kristallkugel?“ Man braucht dazu keine Kristallkugel. Es genügt, die Dokumente des Pentagon und der großen amerikanischen Büros für Strategiefragen zu lesen und ihre Logik zu erfassen. Diese Papiere sind nicht geheim.
Die Logik dieses Empire ist in der Tat sehr einfach:
1. Die Welt ist eine Quelle für Profite.
2. Um Wirtschaftskriege zu gewinnen, muss man die beherrschende Supermacht sein. 3. Dafür ist die Kontrolle über die strategischen Rohstoffe, Regionen und Routen erforderlich.
4. Jeder Widerstand gegen diese Kontrolle muss gebrochen werden, sei es durch Korruption, Erpressung oder Krieg. Welche Mittel dazu angewandt werden, spielt keine Rolle.
5. Um weiterhin die dominante Supermacht zu bleiben, ist es absolut notwendig, zu verhindern, dass sich die Rivalen gegen den Herren verbünden.
Die NATO hat sich bereits über drei Kontinente ausgebreitet!
Um ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen und der Gendarm der Welt zu werden, verbreiten die Führer der Nato Panik: „Unsere hochentwickelte, industrialisierte und komplexe Welt sei von vielfältigen tödlichen Gefahren bedroht, die Klimawechsel, Dürre, Hunger, die Sicherheit für die Computernetze, die Energiefrage betreffen.“ [12] So werden nicht-militärische, soziale und Umweltprobleme als Vorwand benützt, um die Rüstung zu erhöhen und und noch mehr Interventionskriege zu führen.
Das eigentliche Ziel der Nato ist es, die UNO zu ersetzen. Diese Militarisierung der Welt bedroht unsere Zukunft immer stärker und ist mit gewaltigen Kosten verbunden: Die USA haben für 2011 einen Rekord-Militärhaushalt von 704 Milliarden geplant. Das sind 2.320 Dollar pro Einwohner! Zwei Mal mehr als zu Beginn von Bush.
Dazu übt der US-Verteidigungsminister Robert Gates ständig Druck aus auf die Europäer, mehr auszugeben: „Die Demilitarisierung von Europa stellt ein Hindernis für die Sicherheit und einen dauerhaften Frieden im 21. Jahrhundert dar.“ [13]
Die europäischen Staaten haben sich bereits gegenüber den USA verpflichten müssen, ihre Militärausgaben nicht zu reduzieren. Alles zum Profit der Rüstungsfirmen.
Die weltweite Ausdehnung der Nato hat nichts zu tun mit Gaddafi, Saddam Hussein oder Milosevic. Es handelt sich vielmehr um einen weltweit angelegten Plan mit dem Ziel, die Herrschaft über den Planeten und seine Reichtümer sowie die Privilegien für die Multis aufrechtzuerhalten. Die Völker sollen gehindert werden, ihren eigenen Weg zu wählen. Die Nato hat Ben Ali, Mubarak und die Tyrannen in Saudi Arabien beschützt. Die Nato wird auch ihre Nachfolger beschützen und nur gegen die gewaltsam vorgehen, die dem Empire Widerstand leisten.
Um Gendarm für die ganze Welt zu werden, geht die Nato Schritt für Schritt vor. Ein Krieg in Europa gegen Jugoslawien, ein Krieg in Asien gegen Afghanistan und jetzt in Afrika ein Krieg gegen Libyen. Das sind schon drei Kontinente! Die NATO war scharf darauf, auch in Lateinamerika zu intervenieren und hat dazu vor zwei Jahren Manöver gegen Venezuela inszeniert. Aber dort waren die Risiken zu groß, weil sich Lateinamerika zunehmend zusammenschließt und die „Gendarmen“ der USA ablehnt.
Warum besteht Washington so sehr darauf, die Nato als Gendarm für Afrika zu installieren? Auf Grund der neuen Kräfteverhältnisse, wie oben dargelegt: Die USA befinden sich im Abstieg. Ihre Position wird von Deutschland, von Russland, von Lateinamerika und China, ja selbst von den kleinen und mittleren Ländern der Dritten Welt, in Frage gestellt.
Warum spricht man nicht über Africom?
Am meisten beunruhigt Washington die wachsende Stärke Chinas. China bietet den asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern fairere Beziehungen, kauft ihre Rohstoffe zu höheren Preisen und ohne Erpressung, bietet Kredite zu besseren Bedingungen, übernimmt Infrastrukturarbeiten, die für ihre Entwicklung hilfreich sind. China bietet ihnen eine Alternative zur Abhängigkeit von Washington, London oder Paris. Also, was tun, um China entgegenzuwirken?
Das Problem: eine Macht im wirtschaftlichen Niedergang hat auch gegenüber den afrikanischen Ländern weniger finanzielle Druckmittel zur Verfügung. Die USA haben deshalb beschlossen, ihre stärkste Karte auszuspielen: die militärische Karte. Man muss wissen, dass ihre Militärausgaben höher sind, als die aller anderen Länder des Globus zusammengenommen. Seit einigen Jahren schieben sie ihre Figuren auf dem Schachbrett des afrikanischen Kontinents immer weiter voran. Am 1. Oktober 2008 haben sie „Africom“ (Kommando für Afrika) geschaffen.
Der ganze afrikanische Kontinent (mit Ausnahme von Ägypten) wurde unter ein einheitliches US-Kommando gestellt, dem US-Armee, Marine, Luftwaffe, Marinetruppen und Spezialeinheiten (für Landungen, Staatsstreiche, verdeckte Operationen) unterstehen. Um die US-Truppen unterstützen zu können, soll das Gleiche bei der Nato passieren. Washington, das überall Terroristen sieht, hat solche auch in Afrika gefunden, zufälligerweise in den Gegenden, wo es das nigerianische Erdöl und andere begehrte Rohstoffe gibt. Wer wissen will, wo die nächsten Etappen ihres berühmten „Krieg gegen den Terror“ stattfinden werden, muss nur auf der Karte nach den Lagerstätten von Öl, Uran und Coltan suchen. Der Islam hat sich in zahlreichen Ländern, darunter Nigeria, verbreitet. Damit steht das nächste Szenario schon fest.
Das eigentliche Ziel von Africom ist es, die Abhängigkeit Afrikas aufrecht zu erhalten, zu verhindern, das sich Afrika emanzipiert und eine eigenständige Kraft wird, die sich mit China und Lateinamerika verbünden könnte. Africom bildet eine unverzichtbare Waffe in den Plänen der Vereinigten Staaten für die Beherrschung der Welt. Sie möchten sich bei der großen Auseinandersetzung, die um die Herrschaft über Asien und seine Seewege begonnen hat, auf Afrika und ihre exklusive Kontrolle seiner Rohstoffe stützen können.
In der Tat ist Asien der Kontinent, wo bereits jetzt der entscheidende Wirtschaftskrieg des 21. Jahrhunderts stattfindet. Angesichts der Stärke Chinas und einer Reihe aufsteigender Volkswirtschaften, deren Interesse es ist, einen gemeinsamen Block zu bilden, ist das eine große Herausforderung.
Washington möchte deshalb Afrika vollständig kontrollieren und den Chinesen die Türe versperren. Der Krieg gegen Libyen ist folglich die erste Etappe, um Africom dem ganzen Kontinent aufzuzwingen. Sie eröffnet keine Phase der Befriedung für die Welt, sondern von neuen Kriegen, in Afrika, im Mittleren Osten, aber auch im Indischen Ozean zwischen Afrika und China. Warum der indische Ozean? Weil, er, wie ein Blick auf die Karte zeigt, die Türe nach China und zum ganzen asiatischen Kontinent bildet.
Um diesen Ozean zu kontrollieren, versucht Washington mehrere strategische Zonen in den Griff zu bekommen:
1. Den Mittleren Osten und den persischen Golf. Daher seine Nervosität bei Länder wie Saudi-Arabien, Jemen, Bahrain und Iran.
2. Das Horn von Afrika, daher seine Aggressivität gegenüber Somalia und Eritrea. Wir werden auf diese Geostrategien in unserem Buch „Die Moslemische Welt verstehen. Gespräch mit Mohamed Hassan.“ zurückkommen, das wir in nächster Zeit veröffentlichen werden.

Das große Verbrechen von Gaddafi

Kommen wir zurück zu Libyen. Beim Kampf um die Kontrolle über den Schwarzen Kontinent, ist Nordafrika ein wichtiges Ziel. Wenn Washington ein Dutzend Militärbasen in Tunesien, Marokko, Algerien sowie in anderen Afrikanischen Nationen einrichten kann, würde es sich den Weg frei machen, den ganzen Kontinent mit einem kompletten Netz von Militärbasen zu überziehen.
Das Projekt Africom ist jedoch auf den ernstzunehmenden Widerstand der afrikanischen Länder gestoßen. Es sagt sehr viel aus, dass keines von ihnen bereit war, den Hauptsitz von Africom auf seinem Gebiet zu akzeptieren. Washington war gezwungen, den Sitz in Stuttgart in Deutschland zu belassen, eine starke Demütigung. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist der Krieg zum Sturz Gaddafis im Grunde eine sehr klare Warnung an die afrikanischen Staatschefs.
Sie sollen nicht der Versuchung erliegen, einen allzu unabhängigen Weg zu wählen. Das aber ist das große Verbrechen, das Gaddafi begangen hat: Libyen hat keine Vereinbarung mit Africom und Nato akzeptiert. In der Vergangenheit hatten die USA eine wichtige Militärbasis in Libyen. Gaddafi hat sie 1969 geschlossen. Es liegt auf der Hand: der aktuelle Krieg hat vor allem das Ziel, Libyen wieder zurückzugewinnen. Es wäre ein strategischer Vorposten, der es ermöglicht, militärisch in Ägypten zu intervenieren, sollte sich dieses Land der Kontrolle der USA entziehen.
Was sind die nächsten Ziele in Afrika?
Die nächste Frage wird sein: wer ist nach Libyen an der Reihe? Welche anderen afrikanischen Länder könnten von den USA angegriffen werden? Die Frage ist leicht zu beantworten. Wenn man weiß, dass Jugoslawien auch deshalb angegriffen wurde, weil es sich weigerte, der Nato beizutreten, muss man sich nur die Liste der Länder anzusehen, die nicht bereit waren, sich an Africom unter der militärischen Führung der USA zu beteiligen. Es sind 5 Staaten: Libyen, Sudan, Elfenbeinküste, Zimbabwe, Eritrea. Das sind die nächsten Ziele.
Der Sudan wurde geteilt. Mit internationalen Sanktionen wird auf ihn Druck ausgeübt. Zimbabwe steht ebenso unter Sanktionen. Die Elfenbeinküste wurde in einen Bürgerkrieg gestürzt, den der Westen geschürt hat. Eritrea wurde von Äthiopien, dem Polizisten für die USA in der Region, ein furchtbarer Krieg aufgezwungen. Es steht ebenfalls unter Sanktionen. Alle diese Länder waren oder werden noch Opfer von Propaganda- und Desinformationskampagnen werden.
Ob sie von anständigen und demokratischen Führen gelenkt werden oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Eritrea versucht, eine wirtschaftlich und sozial selbstständige Entwicklung zu gehen. Es weist die „Hilfen“ zurück, die ihm die von Washington kontrollierte Weltbank und IMF aufzwingen wollen. Dieses kleine Land verzeichnet erste Erfolge in seiner Entwicklung, wird aber international bedroht. Auch andere Länder sind genauso in der Schusslinie der USA, falls sie einen falschen Schritt gehen. Das gilt besonders für Algerien.
In der Tat zahlt es sich nicht aus, seinen eigenen Weg zu gehen. Allen denen, die immer noch glauben sollten, dass dies eine „Verschwörungstheorie“ sei, und die USA keine Kriege planten, sondern von Fall zu Fall nur auf aktuelle Entwicklungen reagierten, erinnern wir daran, was 2007 der ehemalige General Wesley Clark (von 1997 bis 2001 Oberkommandierender der Nato-Streitkräfte in Europa, leitete die Bombardierung Jugoslawiens) erklärte:
„2001 hat mir ein General im Pentagon gesagt:“ Ich habe soeben ein vertrauliches Memo des Verteidigungsministers erhalten: wir werden uns in den nächsten fünf Jahren sieben Länder vornehmen: wir beginnen mit dem Irak, dann folgen Syrien, Libanon, Somalia, Sudan und zum Schluss der Iran.“ Wunschvorstellungen und Realität weichen von einander ab. Aber die Pläne liegen vor. Nur ihre Umsetzung hat sich verzögert.
Übersetzung aus dem Französischen von Bernd Duschner, 22.5.2011
Die Übersetzung steht – mit Quellenangabe – zur freien Verfügung und Weiterverbreitung.


[1] Marianna Lepore, The war in Libya and Italian interests, inaltreparole.net, 22 février.

[2] Ron Fraser, Libya accelerates German-Arabian peninsula alliance, Trumpet.com, 21 mars

[3] Michel Collon, Israël, parlons-en!, Bruxelles 2010, p. 172.

[4] Die Abkürzung IMF steht für: Internationaler Währungsfonds (englisch: International Monetary Fund), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen [Anmerkung der Red.]

[5] New York Times Magazine, novembre 2006.

[6] Interview radio Democracy now, 10 février.

[7] WiMax ist ein modernes Funkübertragungssystem für schnelles Internet, s. z.B. http://www.telcowatch.de/wimax.htm [Anmerkung der Red.]

[8]J-P Pougala, Les mensonges de la guerre contre la Libye, palestine-solidarite.org, 31 mars

[9] Michel Collon, Poker menteur, Bruxelles, 1998, p. 160-168.

[10] Nato after enlargement, US-Army War College, 1998, p. 97.

[11] Michel Collon, Monopoly – L’Otan à la conquête du monde, Bruxelles 2000, pp. 90 et 102.

[12] Assemblée commune Otan – Lloyd’s à Londres, 1er octobre 2009.

[13] Nato Strategic Concept seminar, Washington, 23 février 2010.

[14] Interview radio Democracy Now, 2 mars 2007

Unter den Bomben der Nato: Reisebericht aus dem Libyen Gaddafis

 
Unter den Bomben der Nato: Reisebericht aus dem Libyen Gaddafis
Die libysche Bevölkerung leistet entschlossenen Widerstand gegen die NATO- Aggression. Ihre Frage lautet: „Warum tun sie uns das an?“

von Fulvio Grimaldi, April 22, 2011.
Übersetzung aus dem Italienischen: Bernd Duschner
Original: Tripoli, Bel Suol D’amore
Beim “Forum solidarisches und friedliches Augsburg” findet man eine formatierte Druckversion.
Der italienische Journalist Fulvio Grimaldi hat in seiner 40-jährigen beruflichen Laufbahn für Radio BBC, das italienische Fernsehen RAI und verschiedene Zeitungen gearbeitet. Als Korrespondent der arabisch-englischen Zeitschrift “The Middle East” lernte er den Irak, Jemen und andere arabische Länder kennen und erlebte 1970 den “Schwarzen September” bei den Kampfeinheiten der “Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas” in Jordanien.
Ab 1986 arbeitete er für das staatliche italienische Fernsehen RAI. Nach Auseinandersetzungen über den Krieg gegen Jugoslawien verließ er den Sender. Der Internationalist, der Solidarität mit den Völkern der Dritten Welt und allen Unterdrückten ernst nimmt und praktiziert, hat zahlreiche Dokumentarfilme gedreht, u.a. über die Nato-Aggression gegen Jugoslawien 1999, über den Kampf des palästinensischen Volkes, das Embargo und die Invasion im Irak. Grimaldi war der einzige ausländische Journalist beim “blutigen Sonntag” im nordiririschen Derry 1972, als britische Paramilitärs 14 Demonstranten erschossen und hat über dieses Massaker den weltberühmten Dokumentarfilm “Irlanda – Bloody Sunday” gedreht.
Im April 2011 reiste Grimaldi über Tunesien zusammen mit einer Gruppe British Civilians for Peace nach Libyen ein. Nachfolgend, nur unwesentlich gekürzt, sein Bericht, den er am 22. April unter dem Titel „Tripoli, bel suol d`amore“ auf seiner Page „
MONDOCANE“ veröffentlicht hat.
Der Titel seines Artikels Tripoli, bel suol d’amore erinnert an das Lied der italienischen Kolonisatoren bei ihrem Überfall auf Tripolitanien im Jahre 1911.

Tripolis, schönes, geliebtes Land
Dieses Mal haben wir es geschafft, nach Libyen zu reisen und auch wieder zurückzukommen. Ich gebrauche das „wir“ nicht im Sinne eines Pluralis Majestatis, sondern meine damit mich und meine AK-47, eine Kalschnikow mit dem Namen Sony. Statt auf Dinge zu schießen, fängt sie diese ein und hält sie auf Bildern fest, damit die Wahrheit auf die Lügen, die weltweit verbreitet werden, wie schwefeliger Hagel niederprasseln kann. Diese Lügen haben eine Welt von Maulhelden, Fettsäcken, linken Schurken, Feiglingen, insgeheim Zustimmenden dazu gebracht, teilnahmslos, mit vorgetäuschter Besorgnis oder ein wenig Bauchschmerzen, zuzuschauen, wie ein großes Land zerstört, ein Führer, der besser ist als jeder andere in der heutigen arabisch-afrikanischen Welt und in keiner Weise verglichen werden kann mit dem Bodensatz, der die „internationale Gemeinschaft“ regiert, dämonisiert wird, und wie der Angriff auf das Leben eines souveränen und freien Volkes erfolgt.

Der Autor (links) mit Mitgliedern der Delegation „British
Civilians for Peace“ bei der Pressekonferenz im Hotel Rixos in Tripolis.

Mein „wir“ bezieht sich vor allem auf die großartigen britischen Bürger – British Civilians for Peace in Libya. Sie sind als Erste aufgebrochen, als menschliche Schutzschilder, um die tatsächlichen Fakten zu erforschen und um als Kämpfer für den Frieden die Dreckflut aus Komplizentum, Falschinformation, kolonialistischer Brutalität und eurozentrischem stillschweigendem Mitmachen zu durchbrechen. Sie wollten ein sichtbares Zeichen setzen. Sie wollten sich wenigstens für einige Zeit neben die Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder stellen, die Widerstand leisten und nach dem Willen des Imperialismus von Obama bis Rossana Rossanda [1] dem Tod geweiht sein sollen.
Als am 17. Februar die Revanchisten des besiegten Kolonialismus den Arabischen Frühling mit der Blüte der Pfirsiche zur Tarnung missbrauchten und ihren Hilfstruppen in Bengasi das Signal für den Staatsstreich gaben gegen die letzte Festung, die noch von der ersten Welle der Befreiungsbewegungen steht, habe ich sofort meine Sony eingepackt und ein Visum für Libyen, für Tripolis, beantragt.
Der Botschafter in Rom war einer aus dem halben Dutzend Renegaten und Gekauften des libyschen Establishment, die sich auf die Seite geschlagen haben, die ihnen Vorteile verspricht: „Wenn du nach Bengasi willst, bekommst du das Visum sofort. Tripolis kommt nicht in Frage.“ In Bengasi , unter den Gurgelabschneidern der CIA-Truppe namens Al Kaida, die von den US-Missionen in Bosnien, Afghanistan, Tschetschenien und tausend anderen Orten imperialistischer Provokationen zurückgekehrt sind, unter hirnverbrannten und sich für gerissen haltenden Monarchisten, Terroristen der westlichen Geheimdienste, ägyptischen Söldnern, libyschen Emigranten, die nach Jahrzehnten Ausbildung und Konspiration mit CIA und MI6 zurückgekommen sind, da fühlt sich ein guter Teil der blutsverwandten westlichen Presse zu Hause.
Mit dem Heiligenschein der Demokratie und ihrer Abscheu vor der Tyrannei hängen sie nur an den Lippen von Leuten, die auf den Schlachtfeldern versagt haben, weil ihnen die Motivation fehlte. Statt dessen machten sie Razzien auf arme afrikanische Arbeitsemigranten. In den Medien als „Söldner Gaddafis“ bezeichnet, wurden diese in Massen gefoltert und ermordet. (…)
Ich schloss mich den 13 Briten einer Friedensgruppe an, die vor Ort die Wahrheit kennen lernen wollte. Von Tunesien aus kamen wir nach Libyen und erreichten nach einer nächtlichen Reise von mehreren hundert Kilometern Tripolis. Immer wieder wurden wir dabei von Posten aus Militärs und jungen Zivilisten aufgehalten. Es sind Freiwillige, die ein Gebiet überwachen, das unter dem Einsickern von Provokateuren leidet. Hier sind wir endlich aus dem Bereich heraus, in dem die Herren der Globalisierung ihre Diktatur, ihr Räubertum und ihre Leichenfledderei wie in einem Zerrspiegel unkenntlich machen können. Bis hierher ist ihre Globalisierung, die für die Menschheit eine Katastrophe bedeutet, niemals vorgedrungen.
Jawohl, in Tripolis und einem großen Teil des freien Libyen wurden wir von jungen Funktionären der Regierung begleitet. Aber es war anders als bei den embedded Journalisten in Bengasi. Von denen haben nur wenige Briten und Amerikaner den Rest an Anstand, zuzugeben, dass sie sich nur unter der eisernen Kontrolle der Schergen des Putsches bewegen können. Wir aber haben hier die Freiheit, überall hinzugehen. Wir können Halt machen, wo immer wir es möchten, mit jedem sprechen, sei es auf der Straße, auf Märkten, in Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. Bei unserer abschließenden Pressekonferenz im Hotel Rixos, einem Luxushotel für die Auslandspresse, lärmen ein paar noch zurückgebliebene Journalisten der britischen manipulierenden Medien über die Fakten, die wir ermittelt haben.
Unsere Fakten zeigen die Lächerlichkeit der stereotypen Kolonialpropaganda. Da erheben sie lautes Klagen, weil ihre Bewegungsfreiheit behindert werde. In einem Krieg, mit F-16-Bombern und Tomahawk-Raketen über den Köpfen, wo Journalisten fast überall zusätzlich zur Unterstützung der Aggression ausgebildet sind, fordern diese Marktschreier von Murdoch und der BBC, sich so frei bewegen zu können, als wären sie hier für eine Reportage über die touristische Zukunft des Landes. Ich erinnere mich an Belgrad während der Bombenangriffe. Der „Diktator“ Milosevic hatte ihnen allzu großzügig die vollständige Bewegungsfreiheit gewährt. Das machte es diesen sogenannten Journalisten und Pazifisten möglich, die Zielorte nach Aviano [2] zu melden, die sich für die Angriffe am meisten lohnten.
Es gab keinen Tag, an dem die „Koalition der Willigen“ nicht Tripolis bombardiert hätte, um die Zivilisten vor den Massakern Gaddafis zu „retten“. Zuerst geschah das unter dem Namen „Morgenröte des Odysseus“, später als „United Protector“. Vor allem in der Nacht erfolgten die Bombardements. Wir waren dann völlig erschöpft, weil wir während des Tages intensiv Fakten zusammengetragen hatten. Tief im Schlaf nahmen wir nichts mehr wahr.
Die Berichte von denen, die wach geblieben waren, und die Berichte der internationalen Fernsehsender (alle, auch die feindlichsten und verlogensten sind zu hören) machten uns sprachlos: Sie listeten die Zerstörungen und die Zivilisten auf, die dank der Tötung durch die Nato vor den Metzeleien Gaddafis gerettet worden seien. In der Nacht, als wir aus Libyen zurückfuhren, behaupteten die Bulletins der embedded Journalisten, die Grenze nach Tunesien sei in den Händen der Rebellen. Tatsächlich herrschte Ruhe. Die Grenze wurde von einem Volk bewacht, das unter Waffen steht.
Ich war an dieser Nacht mit meinen Gedanken bei den sieben Zivilisten, die in Khellat Al Ferjan, einem Vorort von Tripolis, die vom „United Protector“ massakriert worden waren. Die Leute baten uns, der abgestumpften Außenwelt, die sich vom Ammenmärchen der „humanitären Hilfe“ einlullen lässt, mitzuteilen, dass es eine Rafale Sarkozys war, die ihre verbrannten Knochen für Allahs Paradies gerettet hatte. Es waren Frauen und Kinder.
Wir haben uns mit der libysche Bevölkerung getroffen, mit Studenten, Frauen, Bauern, Hirten, Stammeshäuptern, Arbeitern, Anwälten, Richtern, Kaufleuten, fliegenden Händlern, Ministern, Regierungssprechern, einem Volk von Freiheitskämpfern. An jedem Platz, den strategischen Punkten der Städte und im Land sahen wir Gruppen von Freiwilligen, junge und ältere Leute, häufig, junge Frauen. Sie alle waren alle bewaffnet, in kleinen Gruppen als menschlicher Schutzschild zur Verteidigung ihres Landes. Wann immer wir bei unserem Herumfahren zu ihrer Überraschung auf sie stießen, kam es zu spontanen überschwänglichen Kundgebungen. Dabei zeigten sie ihre Entschlossenheit zum Widerstand, schmähten die Aggressoren, machten ihre Verbundenheit mit Gaddafi und dem Vaterland, das er aufgebaut hat, deutlich. 42 Jahre an der Spitze Libyens! Was für eine antidemokratischer Skandal! Die bürgerliche kapitalistische Diktatur, die mit der Manipulierung bei den Kindern beginnt, zieht die eigene Kontinuität vor.

Zigtausende Libyer demonstrieren ihre Unterstützung für die
Regierung

Von wegen nur 40 Jahre: Eine einzige Ideologie, dafür von verschiedenen Personen verkündet. „Allah – Muammar – ua Libia – ua bas“ ist der Slogan, mit dem die breite Mehrheit der Bevölkerung für die drei zentralen Werte des Widerstandes („Gott, Gaddafi, Libyen, das genügt!“) kämpft. Die militärischen Erfolge bestätigen es.
Es ist das Liebeslied dieses Volkes, das Lied einer Tragödie, die bereits epische Form angenommen hat. „Tripolis, schönes geliebtes Land“, das sie von Schwarzhemden und den Helfern der Kolonialisten befreit haben, hat heute diese Bedeutung.
Es ist eine Liebe, die ihre Gesichter ausstrahlen und die in den Häusern, Zelten, Schulen, der Wüste zu spüren ist. Eine Liebe, die ihnen hinweghilft über die quälende Frage, die uns das Herz zerreißt: Warum tun sie uns das an? Im Zentrum der Frage: das galante Italien mit seinen Handküssen, Italien mit seiner Schuld, das gepriesene Italien. Seine Tornados lenken die Bomber hin zu den Gütern und zu den Kindern der 600.000 Libyer, die Graziani [3] massakriert hat. Die Ratten des italienischen Regimes gehen zu den Gangstern in Bengasi und betteln um Öl und Geschäfte, während ihr Dolch noch blutet, den sie dem Land in den Rücken gestoßen haben.
Warum tun sie es uns an? Sie machen es, libysche Brüder, weil ihr Euch nicht globalisieren ließt; weil ihr der Elite der Gurgelabschneider, die der Welt das Mark aussaugt, nicht erlaubt habt, Euch straflos auszuplündern; weil ihr mit den anderen, die sich in der gleichen Situation befinden, gesprochen und verhandelt habt; weil die bestehenden Verhältnisse nicht gestört werden sollen durch euer Land, das nach UNO-Angaben hinsichtlich Lebensbedingungen und Menschenrechte, Bildung, Gesundheitswesen, Wohnung, Arbeit, Absicherung im Alter, bei Mutterschaft, für Kinder und Frauen den höchsten Stand auf dem Kontinent erreicht hatte; weil ihr nicht auf die draußen gehört habt, die eure Form sozialistischer Demokratie durch die Diktatur der Unternehmensvorstände ersetzen wollten; weil ihr euren afrikanischen Brüdern nicht Abschiebelager und ähnliches, Diskriminierung, Ausgrenzung, Rassismus gegeben habt, sondern Arbeit und Würde: 2,5 Millionen bei sechs Millionen Einheimischen!
Die Handvoll Stümper und Verräter, die sich kaufen ließen für die politische, wirtschaftliche, soziale und moralische Versklavung durch den Imperialismus und die heute in Bengasi „regieren“, sind Überläufer zur CIA. Schon vor Jahrzehnten sind sie in Washington und London gestrandet, um die Übernahme Libyens durch den „Freien Markt“ vorzubereiten. Die beiden ehemaligen Minister, die im Übergangsrat den Staatsmann geben, waren seit 2005 mit Gaddafi in Konflikt geraten. Sie sahen ihre Pläne zur der Schaffung eines freien Marktes, der Liberalisierung, der Globalisierung des Elends, der Beseitigung des Sozialstaates, scheitern. Dafür hatten sie gemeinsam mit ausländischen Regierungen und Multis alle Hebel in Bewegung gesetzt. Der Konflikt führte 2010 zur offenen Auseinandersetzung zwischen der neoliberalen Fraktion und denen, die treu an der Linie des Sozialismus im Sinne des Grünen Buches festhielten.
Bab el Aziza, mitten in der Hauptstadt, war das Haus Gaddafis. Es wurde 1986 von Reagan bombardiert. 100 unschuldige Opfer kamen damals ums Leben, unter ihnen die kleine Adoptivtochter des libyschen Führers. Heute ist Bab el Aziza erneut eine gewaltige Ruine, die das ganze Ausmaß westlicher Barbarei zeigt. Damals musste man das Land bestrafen, weil es sich unter seinem Revolutionsführer vom italienischen Kolonialismus und der Knechtschaft Londons befreit hatte, sich einreihte in die Gemeinschaft freier Völker und gerechter Gesellschaften, zur einer Nation geworden war.
Nach Nasser war Libyen mit Algeriern, Irakern, Syrern und Palästinensern Bezugspunkt für die entstehende Bewegung der arabischen Einheit worden. Als dann Saddam gestürzt, Algerien weitgehend normalisiert, der palästinensische Widerstand durch Verrat unterhöhlt, Syrien eingekreist, der Sudan isoliert, bombardiert, aufgespalten, die widerlichsten arabischen Satrapen und Vasallen mit Waffen und Repression gefestigt waren, hatte Libyen seinen Blick auf sein geographisches Hinterland geworfen. Schon früher hatte es tatkräftig die Befreiungsprozesse im Südteil des Kontinents unterstützt. Mit der Schaffung der Afrikanischen Union wurde es zur treibenden Kraft gegen eine erneute Kolonisierung.
Bab el Aziza ist wieder bombardiert worden. Das neue Gebäude liegt in Trümmern. Die umliegenden Stadtteile wurden schwer getroffen. Gäbe es nicht diesen großen Mann, Giovanni Martinelli, den Bischof von Tripolis und apostolischen Vikar für Libyen, so hätten wir nicht einmal von einem einzigen der Toten erfahren, die bei dieser Apokalypse bereits umgekommen sind. Wir hätten nichts erfahren, angefangen bei den 40 Menschen, die allein an diesem Platz bei der Operation Morgendämmerung der Odyssee“ getötet wurden.
Wir haben die menschlichen Schilder in Bab el Aziza gesehen und sie besucht. „Hinkommandiert von Gaddafi“, heißt es, so als ob der verehrteste Mann in Libyen das Modell der Israelis übernommen hätte.
Diese hatten bei ihrem Vormarsch auf Gaza junge Leute an Panzer angebunden. Gleicher Art ist die Unterstellung, Gaddafi, der sich auf die Unterstützung eines ganzes Volkes stützen kann, würde Söldner einsetzen, wie es die „Exporteure der Freiheit“ mit ihren Serienkillern von Blackwater praktizieren.
Libyen braucht keine Söldner. Es hat ein Volk unter Waffen, das einen sechs Monate dauernden Wehrdienst absolviert, einen Monat jedes Jahr Wehrübungen betreibt, seine jungen Männer und Frauen von der Schule an für die Verteidigung ihres Vaterland ausbildet. Auch von ihnen trafen wir viele auf dem großen Platz von Bab el Aziza, unter den Palmen und Trümmern der zerstörten Gebäude. Manche waren von weit her aus der Wüste mit ihren Trommeln angereist, seit Wochen in Zelten, Tausende Frauen jeden Alters, verhüllte Mädchen neben Jugendlichen in Blue Jeans, Leute aus den Vorstädten, Freiberufler, Studenten, Nomaden der Kabyle.
Nacht für Nacht fordert diese riesige Menschenmenge die Serienkiller in ihren Flugzeugen heraus. Hier befindet sich eine große Bühne für Kampfes- und Liebeslieder, für Reden und Aufrufe. Immer wieder sind Slogans zu hören, Fotos von Muammar zu sehen, die lächelnde Mütter mit ihren Kindern im Arm hochhalten. Überall sind Menschen, die eingehakt in traditioneller Weise tanzen. Ich muss mich an die ersten Zeiten der bolivarischen Revolution des Hugo Chavez zurückerinnern, um eine solche Ansammlung von Kraft, Optimismus, Enthusiasmus und Entschlossenheit, zu finden, was immer es kosten mag.
Den empörendsten, unwiderlegbaren Beweis, wie die öffentliche Meinung getäuscht und betrogen wurde, um den Staatsstreich zu rechtfertigen, haben wir in den Küstenstädten in der Peripherie von Tripolis gesehen, in Suk Jamal, Tajura, Fajlun. Nach Angaben der Stümper in den Medien und der Kriegsverbrecher befand sich hier die rauchende Pistole, die eine humanitäre Intervention unumgänglich gemacht haben. Sollten die Zivilisten vor dem Niedermetzeln durch Gaddafi geschützt werden, könne die Intervention nicht mehr aufgeschoben werden.
In diesen Orten habe es angeblich Massenrevolten gegeben, die der „Wahnsinnige und Blutrünstige“ im Blut erstickt hätte. Es sind Orte mit einigen Zehntausend Einwohnern, voll strahlender Lichter, mit pulsierendem Leben. Sie liegen an Stränden, die ein Meer umsäumen, das nicht verseucht ist. Ein Traum für Urlaubsuchende, eine Gefahr für die Touristenzentren der Öldiktaturen. Sie laufen Gefahr, die Touristen an diese Städte zu verlieren. Sie sind leichter zu erreichen und nicht so künstlich und verunstaltet von der Korruption und Hässlichkeit des westlichen Tourismus. Dazu kommt die Herzlichkeit natürlich gebliebener Menschen, gastfreundlich, unglaublich freundlich und respektvoll. Es ist nicht nur das Öl und das Tor nach Afrika, das die verwandten Monarchen vom Golf zu Intervention und Verrat veranlasst hat.
Wir haben diese Orte kreuz und quer ganz nach Lust und Laune durchlaufen, Station gemacht, bei wem wir auch immer wollten. Wir haben die Märkte dieser reichen Landwirtschaft besucht. Sie konnten sich über Jahrzehnte entwickeln, seit es gelang, unterirdisches Wasser für alle Bürger zur Verfügung zu stellen. Wir betraten die Häuser, hörten uns die Berichte der Verwandten der Opfer an, erfuhren von der Zerstörung von Wohnhäusern. Wir trafen eine Großmutter, deren 16 jährige Enkelin getötet worden war und die Tränen in den Augen hatte, einen fahrende Händler, der Schuhe reparierte, einen Mann mit seinem Auberginen-Stand, eine Schalverkäuferin, einen Zahnarzt, der von der Nacht in Bab el Aziz zurückkehrte, einen Kaffeeverkäufer im traditionellen Jalabiya-Kleid, einen Bauer, dessen Hof von Raketen und gezielten Schüssen aus der Luft bei einer Menschenjagd zerstört worden war. Wir trafen die Häupter der örtlichen Stämme, die in Erscheinung, Gesichtsausdruck, Kleidung an Omar al Muktar, denen Held des 30 Jahre dauernden Widerstandes gegen die Italiener erinnerten. Auf Befehl von Mussolini war er aufgehängt worden.
In Tajura, Fajlun, Suk Jamal hat es zu keinem Zeitpunkt eine Revolte gegeben. Zu keinem Zeitpunkt gab es hier Schüsse von regierungstreuen Truppen. Alles erfunden. Genauso wie die Massenvernichtungswaffen und der Völkermord mit Gas an den Kurden im Irak, wie die ethnische Säuberung, Srebrenica, die Bomben auf dem Markt von Sarajevo und das Massaker von Racak in Jugoslawien, wie die Geschichte von Osama in Afghanistan, vom 11. September, den Al Kaida verursacht hätte… Nicht ein einziges Schussloch als Beleg für einen Kampf zwischen Rebellen und Armee ist zu sehen, nur Krater und die Einschläge, die aus der Luft, der „Flugverbotszone“ her erfolgten.
Viele erzählten uns, wie sie in den Tagen Mitte März, als alle Welt davon sprach, Gaddafi würde die Bevölkerung in Tajura, Fajlun und Suk Jamal ermorden, Freunde und Verwandte ganz erschrocken von überall her anriefen. Sie wollten sich vergewissern, dass sie noch lebten. In der Anti-Gaddafi-Hysterie drohte völlig unterzugehen, dass sie am Leben waren. Verwundert hätten sie geantwortet, es sei nichts geschehen. Alles sei ruhig.
Die gleiche Antwort hätten sie allerdings wenige Tage später nicht mehr geben können, als die ersten 110 Raketen mit Uran zu ihrer Rettung einschlugen. Mittlerweile sind es Tausende bei den durchschnittlich 150 Luftangriffen an jedem Tag, bei den Salven von 6.000 Schuss Uran-Munition pro Minute aus den C10 und C13. Es sind Vernichtungswaffen, deren Folgen die Völker, die man nicht mehr braucht, Jahrhunderte zu spüren haben. Sollte es auch die Söldner aus Bengasi treffen, wen würde das stören? Morgen wird in Libyen, genauso wenig wie im Irak und Afghanistan, niemand von westlichen Eliten leben müssen, abgesehen von den Handlangern, die sie brauchen.
Im tiefen Süden zwischen den roten Dünen und den bebauten Ländereien, in Ben Walid, empfangen uns die Häupter des größten libyschen Stammes, der Worfalla. Wie alle anderen Stämme sind sie, abgesehen von einigen Ausnahmen in der Cirenaica und verstreuten Minderheiten, vollständig auf der Seite der legitimen Regierung. Zu ihnen gehören mehr als 1,5 Millionen Menschen, fast ein Fünftel der Bevölkerung. Sie erklären, sie seien bereit, sich bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, selbst wenn es, wie es aussieht, ein lang andauernder Krieg werden sollte.
Sie haben ihre Erinnerung, ihre Klarsicht und Entschlossenheit von dem 30 Jahre dauernden Kampf gegen die Kolonialisten Giolitti und Mussolini und dem Aufstand gegen den Marionettenkönig gewonnen, den Churchill installiert hatte. Sein Nachfolger in London setzt jetzt auf die Wiederherstellung dieses Regimes, das die „revolutionären“ Fahnen der Aufständischen ankündigen. Unser gemeinsames Essen und Gespräch mit den Alten der Worfalla lässt Erinnerungen wach werden an die abgenutzten Requisiten in der Kinozeitung „Luce“ und den Film „ Löwe der Wüste“ über das Leben und den Kampf von Omar al Muktar.
Auf den Kissen entlang der Wände der großen Aula des Instituts für hohe elektronische Technologie stehen würdevollen Gestalten alter Beduinen, alle mit dem Gewehr bewaffnet, mit Gesichtern, wie aus Holz von Ölbäumen geschlagen. Sie empfangen uns mit der Würde starker und selbstbewusster Menschen, zu der Wärme und Herzlichkeit gehören. Wir stellen uns dazu die Abgeordneten des Montecitorio vor. Und wieder hören wir Berichte von ihrem Widerstandskampf, tief betroffene Verwunderung über das „befreundete Italien“, und an die Adresse der Geier gerichtet, die über Libyen kreisen und sich auf seine Reichtümer stürzen wollen, ein deutliches, „Sie werden nicht obsiegen“.
Ein alter Mann berichtet liebevoll über seine italienische Lehrerin in der Kolonialzeit. Er tut das aus Freundlichkeit, um es für uns leichter zu machen, angesichts der Scham, die wir für die Verbrechen unseres Landes empfinden. Ein dümmlicher Landsmann schwatzt von den Wohltaten des italienischen Kolonialismus. Ein Drittel des libyschen Volkes wurde damals in Lagern und mit Gas getötet. Das bringt ihn zum Schweigen.
Sie bringen uns zum Sitz der lokalen Fußballmannschaft. Es fallen die Namen von Spielern der Mannschaften von Rom und Turin wie Baggio, Totti, Cassano. Sie schenken uns Pullover ihrer Mannschaft, die am 2. Platz in der B-Liga steht. Die Spieler haben aktiv mitgearbeitet bei der Hilfe für die Flüchtlinge aus Misurata. Die Verbissenheit der Kolonialisten und ihrer einheimischen Helfer hat den Ort zur Märtyrerstadt werden lassen.
Auf der anderen Seite des Meeres spricht man von nichts anderem als den Zivilisten, auf die die Milizen Gaddafis schießen würden. Aber nicht vor ihnen sind diese 400 Familien aus Misurata geflohen, sondern vor den ständigen, immer wieder plötzlich kommenden Luftangriffen auf die Stadt. Geflohen sind sie auch vor den bärtigen Salafiten. Die „humanitären Helfer“, die im Hafen an Land gegangen sind, liefern ihnen zur Unterstützung Raketenwerfer und Mörsern. In den Umkleideräumen der Mannschaft tragen sie Lebensmittel und Kleidung zusammen, Spenden der Bewohner der Zone für die Flüchtlinge.
Grundschulen, höhere Schulen, Schulen mit Jungen und Mädchen, sie alle lassen auch unter dem Hagel der Bomben keine Stunde Unterricht ausfallen. Die Großen sind in Uniform. Alle haben eine Ausbildung für die Verteidigung absolviert, alle wissen, leichte und schwere Waffen zu handhaben. Seltsamerweise ist es in jeder Schule eine Frau, darunter auch ältere Frauen, die diese Kurse abhalten. Es gibt keinen, der nicht sagt, er sei bereit, das Land zu verteidigen. „Wenn sie landen, werden sie sich einem ganzen Volk gegenübersehen“.
Wissen die Leute von der neugebildeten europäischen Invasionstruppe EUFOR, die sich darauf vorbereiten, „humanitäre Korridore“ für die militärische Besetzung und Aufteilung Libyens zu sichern, was sie erwartet? Hat La Russa die Särge mit der Tricolore und die Trauerreden schon vorbereitet für unsere neuen „Verteidiger des Friedens“ und unsere „Wächter gegen den Terrorismus“? Mit den Füßen voran werden sie heimkehren. Beim Abschied unter dem Jubel der Schülerschaft, ihrem ungebremsten Gejohle, fest entschlossen und mit dem verzweifelten Willen uns von der Richtigkeit ihrer Worte zu überzeugen, lässt die Ausbilderin Salven aus ihrem Gewehrlauf ertönen. Es sind Warnschüsse hinauf in die Luft.
Auch bei der Begegnung mit dem stellvertretenden Außenminister Khaled Khaim, mit Ärzten des Krankenhauses, mit Fachjournalisten für Geopolitik und Recht, mit denen verglichen, viele der unsrigen Experten ganz armselig wirken würden, mit Vertretern der nationalen Organisationen der Richter und Anwälte, mit dem brillanten und äußerst populären offiziellen Regierungssprecher Mussa Ibrahim, werden wir gebeten, die Botschaft für Frieden, Dialog und Aussöhnung zu verbreiten. Warum kommt noch immer nicht jene verfluchte Untersuchungskommission der UN oder irgendeine andere Gruppe, die den ernsthaften Willen hat, zu überprüfen, was es mit den tatsächlichen oder angeblichen Opfern auf sich hat, die sehen möchte, ob die Vorwürfe berechtigt sind und was die Bevölkerung will?
Diese Kommission müsste ein Meer von Lügen beseitigen, das die Medien verbreitet haben. Ihre vorrangige juristische Aufgabe wäre es, die Fakten zu überprüfen, von denen behauptet wird, sie müssten mit der Todesstrafe geahndet werden. Über Gaddafi berichten sie im Westen nur von seinen „Drohungen“. Einige der mächtigsten Armeen der Welt bedrohen und greifen ein Land an und verstecken sich dabei hinter den blutrünstigen und grotesken Anklagen einer Bande gekaufter Vaterlandsverräter. Es sei Gaddafi, der uns bedrohe. Vielleicht, weil er diejenigen, denen er Arbeit und Wohlstand gegeben hat und die jetzt durch den Krieg der Nato zu Lastenträgern auf dem freien Markt gemacht werden, zu unseren heiligen und verseuchten Stränden gehen lässt.
In Tajura haben wir ein Lager von Migranten aus Ländern südlich der Sahara getroffen. Sie waren niemals in Lagern eingesperrt, hatten ihre Arbeit verloren, weil die nationalen und ausländischen, oft chinesischen, Firmen schließen. Sie suchten nach einer Möglichkeit, irgendwohin vor dem Krieg zu fliehen. Sie waren besorgt und verängstigt. In der Bevölkerung, berichteten sie, bilde sich jetzt eine andere Stimmung, als die Herzlichkeit und Brüderlichkeit, mit der sie aufgenommen worden waren. Eine Folge des Traumas, das jemand empfindet, der plötzlich ausgestoßen, verleumdet, befeindet, abgeschnitten wird von der Welt, selbst von den Regierungen dieser Immigranten, von denen die einen untätig, die anderen zu Komplizen geworden sind bei dem offenkundigen Vorhaben, das friedliche und freie Land zu zerstören.
Pater Giovanni Martinelli, der Bischof von Tripolis, war die einzige Stimme, die in den unehrlichen und verlogenen Medien, wenn auch nur sehr eingeschränkt zu hören war, nur deshalb, weil er Priester, Katholik und Vikar des Papstes ist. Er hat uns von den Massakern an Zivilisten durch unsere Seite, durch den Westen, berichtet. Quadratischer Kopf eines Bauern aus den Bergen, aufgeweckte und lächelnde Augen, sprachgewandt, nicht wie ein Prophet, aber genauso leidenschaftlich, empfängt er uns im Garten seiner großen Kathedrale. In ihr befinden sich mehrere Stauen des heiligen Franziskus. Vor wenigen Tagen sei etwas Unerhörtes geschehen: Zum Repräsentanten der katholischen Kirche, dem Vikar eines Papstes, der zwar die Kriegsverbrechen nicht direkt gesegnet, aber sich auch nicht für Libyen eingesetzt hatte, waren Dutzende muslimischer Frauen gekommen. Sie hatten ihn gebeten, sich für den Frieden einzusetzen. Sie hatten sich an ihn gewandt, damit er der Welt die Wahrheit sage, Ausdruck ihres tiefen Sorgen, einer Hoffnung, die von den Fanfaren der „Kriegstreiber“ sogleich mit den Füßen zertreten wurden.
Martinelli bestätigt uns ein weiteres Mal, dass es die öffentlich verkündeten Massaker Gaddafis nicht gegeben habe. Täglich würde ihm von den Bemühungen der Truppen berichtet, die Zivilpersonen aus den Kampfhandlungen herauszuhalten. Gerade das habe zu Verzögerungen und Schwierigkeiten bei der Rückeroberung der von Rebellen besetzten Orte geführt. Nach einem Monat Kämpfen gab es 285 Tote in Misurata, darunter ganz wenige Frauen. Bei rücksichtslosen Angriffen auf Wohngebiete wäre statistisch 50% Frauen unter den Opfern zu erwarten gewesen.
Dieser Priester, der sein Volk, Christen wie Moslems liebt und ihm seit 40 Jahren dient, zeigte keine priesterliche Zurückhaltung, als er uns Gaddafi und sein Volk beschrieb: Ein Land, das es nicht akzeptiert hatte, sich zu unterwerfen, das sich eingesetzt hatte für die Einheit der Völker, sich ausländischem Einfluss und Diktat entzog, allen Wohlstand garantierte, Sicherheit, Würde und eine breite Teilnahme an den Entscheidungsprozessen ermöglichte. Gaddafi mag Fehler gemacht haben. Vielleicht seien sie darauf zurückzuführen, dass er nicht immer die besten Leute um sich auswählt habe. Niemand aber könne ihm die Anerkennung dafür verweigern, dass er Reaktion und Reaktionäre, Kolonialisten und Neokolonialisten verjagt und sich seinem Volk mit Hingabe und Klugheit gewidmet habe. In einer Region von Lakaien und Prokonsuln des Imperialismus gäbe es niemanden, den man mit ihm nur im Entferntesten vergleichen könne.
Uns sollte reichen, zu wissen, auf welche Seite man sich stellt. Südafrika hat einen konkreten, glaubwürdigen Friedensplan vorgelegt. Das haben von Anfang auch an die aufrechten Regierungen Lateinamerikas getan, ebenso wie die BRICS Staaten, Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika mit ihrem wirtschaftlichen Gewicht und dem ihrer Bevölkerung. Gaddafi hat einen Waffenstillstand vorgeschlagen, überwacht von internationalen Beobachtern, wirklich humanitäre Korridore, Wahlen, um den Willen der Bevölkerung zu klären. Stimmen, Vorschläge der Vernunft, der Gerechtigkeit, des Friedens. Die apokalyptischen Reiter haben sie nicht im geringsten aufhalten können. Die Stimme der anderen Seite ist nicht hörbar, selbst für eine Rossana Rossanda nicht. Sie haben geantwortet und auf der Beseitigung Gaddafis bestanden, auf ein Exil, wo ihn wie gewöhnlich gedungene Mörder des Mossad leichter erreichen können. „Die Befürworter eines Verzichtes von Gaddafi sollten sich nicht täuschen. Ein Führer kann nicht zurücktreten, wenn das Volk von ihm verlangt, dass er bleibt. Abgesehen davon, Gaddafi ist kein Typ, der sich ergibt, er ist ein Beduine, der bis zu seinem Tode kämpfen wird.“ Mit ihm Libyen, ihr werdet es sehen. Der kleine Priester mit dem quadratischen Schädel eines Bauern und den lächelnden Augen verabschiedet seine Besuchergruppe mit Tränen in den Augen.
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[1] Rossana Rossanda war führende Funktionärin der KPI in den fünfziger und sechziger Jahren und Mitbegründerin der linken Tageszeitung Il Manifesto. Im März kritisierte sie die Sprachlosigkeit der Linken und von Il Manifesto gegenüber dem Konflikt in Libyen. Was will sie ausgesprochen haben? Das Neue Deutschland veröffentlichte am 16. April einen Beitrag von Rosanna Rossanda, den man durchaus als imperialistisch bezeichnen kann. Darin heißt es unter anderem:

»Il Manifesto« scheint nicht in der Lage zu sein, die Dinge beim Namen zu nennen: Dass es sich nämlich bei Gaddafis Libyen weder um eine Demokratie noch um einen fortschrittlichen Staat handelt, und dass der aktuelle Umsturzversuch sich gegen einen Familienclan richtet, den wir gerne abgelöst sähen. Weshalb diese Vorsicht seitens einer Zeitung, die bisher nie gezögert hat, sich auf die Seite auch wesentlich geringerer Anliegen zu schlagen, solange diese berechtigt erschienen? Ist es denn kein berechtigtes Anliegen, wenn sich die Menschen gegen eine Macht auflehnen, die ihnen nach dem Sturz einer Operettenmonarchie im Jahr 1969 nunmehr seit 40 Jahren jede Form der Einflussnahme und Mitbestimmung vorenthält? Sind die Illusionen vom gesellschaftlichen Fortschritt denn immer noch nicht verschwunden, die viele von uns, mich eingeschlossen, in den sechziger und siebziger Jahren gehegt haben? Ist es denn nicht offensichtlich, dass Libyen heute von autoritären Machtstrukturen geprägt ist? Glauben wir denn ernsthaft immer noch, dass die Kontrolle über das Erdöl und die Stellung des Landes in der internationalen Staatengemeinschaft in den Händen eines Popanz von Staat liegen darf, der nicht einmal die elementarsten Grundsätze der Gewaltenteilung einhält und dessen Machtfäden bei einer einzigen Familie zusammenlaufen?

[2] Die Aviano Air Base ist ein Stützpunkt der US-Luftwaffe bei Aviano im Nordosten Italiens. Der Stützpunkt gehört zu den United States Air Forces in Europe (USAFE), die hier das 31. Jagdgeschwader (31st Fighter Wing) mit zwei F-16-Staffeln und rund 3.500 US-Soldaten stationiert haben. 1954 beschlossen die USA und Italien die gemeinschaftliche Nutzung der Einrichtung, die damit ein NATO-Stützpunkt wurde. Zum 15. Februar 1955 übernahmen die USAFE die Zuständigkeit und nannten den Flugplatz erst Aviano Airfield, bevor er zum 1. Januar 1956 seinen endgültigen Namen Aviano Air Base erhielt.
Die US-Luftwaffe verlegte vor allem Kampfflugzeuge nach Aviano, darunter F-100 und ab den 1970er Jahren F-4. Von 1992 bis 2005 hatte die 16. Luftwaffe der US-Luftwaffe ihr Hauptquartier hier, seit 1994 sind F-16 in Aviano stationiert. 1999 flogen F-117 von hier aus Angriffe auf serbische Ziele im Rahmen des Kosovokriegs.
Nach dem derzeitigen Stationierungskonzept handelt es sich um eine Main Operating Base. nach wikipedia
[3] Der italienische Kolonialoffizier Rodolfo Graziani nahm schon 1912 als Infanterie-Offizier am Italienisch-Türkischen Krieg teil, bei dem Libyen mit seinen beiden Landesteilen Kyrenaika und Tripolitanien von Italien besetzt und als Kolonie Italienisch-Libyen annektiert wurde. Beteiligt an verschiedenen Massakern und Kriegsverbrechen auf dem Afrikanischen Kontinent, darunter auch in Libyen, diente er unter Mussolini als Generalstabschef des Heeres. 1939 wurde er von Mussolini auch zum Generalgouverneur in Libyen und damit zum Oberbefehlshaber der italienischen Truppen in Nordafrika ernannt. Daneben führte er persönlich auch die 10. Armee im Nordosten Libyens, wobei ihm gleichzeitig auch Italo Gariboldis 5. Armee im Nordwesten unterstand. Grazianis langjährige Erfahrung bei der Niederschlagung von Aufständen und bei der Führung von Kolonialkriegen beeinflussten ganz wesentlich seine Operationsführung… (nach wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Rodolfo_Graziani )

Libyen-Krieg: humanitäre Katastrophe, Westen in Afrika festgefahren

Auch mit Hilfe der massiven Bombardierungen der Regierungskräfte gelang es den libyschen Rebellen nicht, merklich an Boden zu gewinnen. Tatsächlich bringen die zivilen Opfer der westlichen Luftangriffe und das zunehmende humanitäre Desaster auch einen Teil der Rebellen zur Überzeugung, so China Daily, dass die Oppositionsführung nationale Interessen verrät und allein zur Durchsetzung eigener Interessen, auf die Hilfe ausländischer Mächte zurückgreift. Immer deutlich zeige sich auch die politische Ohnmacht der Opposition. „Neben den Vorwürfen von Korruption und Diktatur an das Gaddafi- Regime fand die Opposition keine anderen überzeugenden Argumente, mit der sie seine Legitimität angreifen könnten.“
Eine längere militärische Intervention der westlichen Kriegsallianz werde unweigerlich zu einer wachsenden Zahl ziviler Opfer und schwerwiegende humanitäre Probleme, wie die Zerstörung von zivilen Einrichtungen, Zunahme von Flüchtlingen und ein Mangel an Nahrung und medizinischer Versorgung, führen. Das Gaddafi-Regime werde dann lautstark den Westen für das Elend verantwortlich machen und die Rückkehr zum alten Zustand als einzigen Weg hinstellen können. das Leiden zu beenden.
Gleichzeit schürten die Bombardierungen anti-koloniale Stimmungen in ganz Afrika. Die libysche Regierung werde auf dem Kontinent „zunehmend als Bannerträger im Kampf gegen die westlichen kolonialen Intervention angesehen.“ Libyen erscheine hier weit mehr als vorderste Front der afrikanischen Länder im Widerstand gegen westliche Einmischung, als ein Ort, wo die UNO zum Schutz libyscher Zivilisten eine friedenssichernde Flugverbotszone mandatierte.
Im Vergleich zu Afrikas wachsender Einheit steht die Zersplitterung der arabischen Welt einer Lösung der Situation in Afrika diametral entgegen. Unter den arabischen Ländern herrsche Konfusion. Zuerst hätten sie den Westen aufgefordert in Libyen zu intervenieren und danach gestrebt „Gaddafi als Opferlamm gegen die Unruhen“ in ihren Ländern dienen zu lassen. Nachdem es diesem gelang den Angriffen der Kriegsallianz stand zu halten, distanzierten sie sich, um nicht vor ihrer Bevölkerung als Verräter an den arabischen Interessen zu erscheinen.
Je länger sich die westliche Allianz in den innerlibyschen Konflikt einmischt, desto stärker werden die anti-interventionistische Gefühle in Afrika werden, mit dem Ergebnis, dass die politische Legitimität der libyschen Opposition noch weiter sinkt und der Westen zu einem noch stärkeren Eingreifen gezwungen sein wird – bis er schließ ihn Afrika völlig feststeckt.