Rezension: Georg Auernheimer: Wie Flüchtlinge gemacht werden

Rezension des Buches Wie Flüchtlinge gemacht werden: über Fluchtursachen und Fluchtverursacher, von G. Auernheimer.
Erschienen in PERIPHERIE – Politik, Ökonomie, Kultur, Nr. 156, 39. Jg. 2019, Verlag Barbara Budrich, 490-49Veröffentlichungsversion (PDF)

Als 2015 die Zahl der Menschen, die in EU-Staaten Zuflucht suchten, drastisch zunahm, wurde auch die Bekämpfung von Fluchtursachen zu einem bestimmenden Thema. Im Bestreben, den Zustrom einzudämmen, erklärte sie auch die Bundesregierung zur dringenden Aufgabe. Die Frage, worin für so viele Menschen die Gründe liegen, sich auf beschwerliche, zum Teil lebensgefährliche Wege ins Ungewisse zu machen, wird jedoch recht oberflächlich behandelt. Vielen reichen schlichte Hinweise auf die vielen Kriege und das große Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd. Georg Auernheimer, emeritierter Professor für Interkulturelle Pädagogik in Köln, genügt dies nicht. Zum einen werde dies der Komplexität der Faktoren, die Flucht und Migration antreiben, nicht gerecht, zum anderen beantworte es nicht die für eine erfolgversprechende Bekämpfung entscheidende Frage nach den Ursachen dieser Ursachen, d.h. nach den Gründen für Krieg, Gewalt und ungleiche Verteilung des Reichtums in der Welt. Auernheimer, der sich seit langem mit der neoliberalen Globalisierung und ihren Folgen, insbesondere für Afrika, beschäftigt, geht ihnen im vorliegenden Buch ausführlich und materialreich nach. Den Schwerpunkt legt er dabei auf die Flucht und Migration antreibenden Verhältnisse, die durch den dominierenden westlichen Block geschaffen wurden. Im Wesentlichen geht er dabei von den Umwälzungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus, d.h. von „dem Übergang zur unipo- laren Weltordnung unter der Vorherrschaft der USA“ und der damit einhergehenden „weltweiten Durchsetzung der neoliberalen Agenda“ (9).

„Der heutige Weltzustand ist weitgehend von den Vereinigten Staaten, deren Verbündeten und den von den USA dominierten internationalen Institutionen, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank zu verantworten“ (16), lautet seine grundlegende These. Damit gingen auch die wesentlichen Ursachen für Flucht und unfreiwillige Migration hauptsächlich auf ihr Konto, auch auf das deutscher Regierungen. Als grundlegende Faktoren sieht er die Kriege und Interventionen des Westens, die den Ländern des Südens aufgezwungenen, neoliberal ausgerichteten Wirtschaftsstrukturen und Freihandelsabkommen und den vor allem vom Westen mit Beginn der Industrialisierung verursachten Klimawandel.

Um dies zu belegen, geht er im ersten Kapitel auf die massive Destabilisierung des Nahen und Mittleren Osten und Nordafrikas ein, die für fast ein Drittel aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen weltweit verantwortlich ist, insgesamt über 20 Millionen Menschen. Ausgehend von der Aufrüstung der Muddschahedin in Afghanistan beschreibt er die verheerenden Auswirkungen der völkerrechtswidrigen Kriege und Interventionen gegen Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und den Jemen. Sie wurden zum Teil als „Krieg gegen Terror“ gerechtfertigt, legten aber tatsächlich die Grundlagen für das Erstarken mächtiger Terrororganisationen wie den „Islami- schen Staat“. Auernheimer stützt seine Analyse häufig auch auf sachkundige Quellen, die im Mainstream kaum Erwähnung finden.

Ähnlich schädlich sieht er die westliche Einmischung auf dem Balkan, die die gewaltsame Teilung Jugoslawien förderte, zum Bürgerkrieg in Bosnien führte und schließlich im NATO-Krieg gegen Restjugoslawien gipfelte. Der „Balkanisierung des Balkans“ (91) widmet er ein eigenes Kapitel. Als deren Ergebnis sieht er zwei „failed states“ – den Kosovo und Bosnien-Herzegowina – (100) und – unter Ein- beziehung von Bulgarien und Rumänien (108) – eine „dritte Welt in Europa“ – mit entsprechend hohem Migrationspotenzial. Ein weiteres Kapitel behandelt die Aus- wirkungen der Zerstörung Libyens durch den NATO-Krieg 2011, der Intervention in Somalia seit den 1990er Jahren und der vom Westen geförderten Sezession des Südsudans (vgl. auch Bernhold 2015) auf Nordafrika.

Das ausführlichste Kapitel trägt die Überschrift „Die neokoloniale Ausbeutung Afrikas“ (135). Hierin zeichnet Auernheimer, ausgehend vom kolonialen Erbe, das eine starke Hypothek für die Entwicklung der ab 1960 unabhängig gewordenen Länder darstellte, die Entwicklung der afrikanischen Länder südlich der Sahara nach: Ansätze einer eigenständigen wirtschaftlichen Entwicklung wurden früh durch Druck der reichen westlichen Staaten gestoppt. Nach Erlangen ihrer Unabhängigkeit auf IWF-Kredite angewiesen, waren sie sehr schnell in die Schuldenfalle geraten, die die von den USA und den westeuropäischen Mächten dominierte Institution nutzten, um ihnen Strukturanpassungsprogramme aufzuzwingen. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Auernheimer, wie diese statt zu ihrer industriellen Entwicklung zum Abwürgen der bestehenden, schwachen Ansätze führten und so die Rolle dieser Staaten als abhängige Rohstofflieferanten zementierten. Die bäuerliche Subsistenzwirtschaft begann sich unter der strikten Marktorientierung zu zersetzen, der obligatorisch durchgesetzte Abbau von Subventionen verschärfte die Folgen der Verarmung. Freihandelsabkommen, wie die von der EU aufgedrückten „Economic Partnerships Agreements“ und das damit einhergehende landgrabbing, verschärfen die Situation aktuell noch weiter. Indem der Norden den Kontinent seinen Interessen am freien Absatz seiner Waren und dem ungehinderten Zugriff auf die Rohstoffe unterwarf, schürte er, so Auernheimer, gewaltsame Konflikte und Bürgerkriege, die ganze Staaten zusammenbrechen ließen.

Kaum anders stellt sich die Situation in Mittelamerika dar. Da, wie der Autor zeigt, die USA mit teils offenen, teils verdeckten militärischen Interventionen fort- schrittliche Entwicklungen in ihrem „lateinamerikanischen Hinterhof“ abwürgten oder, wie in Nicaragua, sabotierten, blieben die vom Kolonialsystem herrührenden massenhafte Armut und extreme Ungleichheit wie auch ein hohes Maß an struktureller Gewalt bestehen. Neben Armut sind Unsicherheit und die stete Gefahr willkürlicher politischer, paramilitärischer und krimineller Gewalt die wichtigsten Gründe für die massenhafte Abwanderung gen Norden geworden. Darüber, ob man dies Flucht oder Migration nennt, lässt sich, so Auernheimer, streiten. „Nichts wie weg“ (230) sei jedoch als Reaktion auf solche gesellschaftliche Verhältnisse mehr als verständlich. Sein Buch zeigt durch seine komprimierte Darstellung der Entwicklungen in vier zentralen Problemregionen der Welt anschaulich, dass Flucht und Migration nur die sichtbarsten Symptome weltweiter destruktiver Macht- und Wirtschaftsstrukturen sind, die maßgeblich von den Interessen der westlichen Staaten bestimmt werden und nur durch eine radikale Umkehr von deren Politik einzuschränken sein werden.

Joachim Guilliard

Literatur

Bernhold, Christin (2015): „Deutsche Entwicklungspolitik und Staatsaufbau im Südsudan“.

In: PERIPHERIE, Nr. 140, S. 419-446.

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