Mein Vorschlag für die Marathonlesung in Heidelberg zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung
Zu den Autoren deren Bücher verbrannt wurden, gehört auch Stefan Zweig. Auch wenn es damals noch kein Opfer von Flammen werden konnte, bieten sich heute besonders Auszüge aus seinem erst später geschriebenen Buch “Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers” an (dieses gibt es zum Nachschlagen auch komplett online).
Wenn man sieht, wie heute die Kriegslust gegen Russland geschürt wird, immer mehr, immer schwerere Waffen an die Front geworfen werden, grobe Gut-Böse-Sichten verbreitet, russische Kultur, verbannt, Künstler, Sportler, Wissenschaftler … ausgeschlossen werden und alle, die für ein rasches Ende des Krieges eintreten, wütend attackiert werden, erinnert dies ja schon etwas an die Stimmung 1914:
[-> S. 218 ] Ach, sie wußten nicht, diese Ahnungslosen, welche solche Lügen weitertrugen, daß die Technik, den feindlichen Soldaten jeder denkbaren Grausamkeit zu beschuldigen, ebenso zum Kriegsmaterial gehört wie Munition und Flugzeuge, und daß sie regelmäßig in jedem Kriege gleich in den ersten Tagen aus den Magazinen geholt wird. Krieg läßt sich mit Vernunft und gerechtem Gefühl nicht koordinieren. Er braucht einen gesteigerten Zustand des Gefühls, er braucht Enthusiasmus für die eigene Sache und Haß gegen den Gegner.
Nun liegt es in der menschlichen Natur, daß sich starke Gefühle nicht ins Unendliche prolongieren lassen, weder in einem einzelnen Individuum noch in einem Volke, und das weiß die militärische Organisation. Sie benötigt darum eine künstliche Aufstachelung, ein ständiges ›doping‹ der Erregung, und diesen Aufpeitschungsdienst sollten – mit gutem oder schlechtem Gewissen, ehrlich oder aus fachlicher Routine – die Intellektuellen leisten, die Dichter, die Schriftsteller, die Journalisten. Sie hatten die Haßtrommel geschlagen und schlugen sie kräftig, bis jedem Unbefangenen die Ohren gellten und das Herz erschauerte. Gehorsam dienten sie fast alle in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Rußland, in Belgien der ›Kriegspropaganda‹ und damit dem Massenwahn und Massenhaß des Krieges, statt ihn zu bekämpfen.
Die Folgen waren verheerend. Damals, da die Propaganda sich nicht schon im Frieden abgenützt hatte, hielten die Völker trotz tausendfachen Enttäuschungen alles, was gedruckt war, noch für wahr. Und so verwandelte sich der reine, der schöne, der opfermutige Enthusiasmus der ersten Tage allmählich in eine Orgie der schlimmsten und dümmsten Gefühle. Man ›bekämpfte‹ Frankreich und England in Wien und Berlin, auf der Ringstraße und der Friedrichstraße, was bedeutend bequemer war. Die französischen, die englischen Aufschriften auf den Geschäften mußten verschwinden, sogar ein Kloster ›Zu den Englischen Fräulein‹ den Namen ändern, weil das Volk sich erregte, ahnungslos, daß ›englisch‹ die Engel und nicht angelsächsisch meinte. Auf die Briefumschläge klebten oder stempelten biedere Geschäftsleute ›Gott strafe England‹, Frauen der Gesellschaft schworen (und schrieben es den Zeitungen in Zuschriften), daß sie zeitlebens nie mehr ein Wort französisch sprechen würden. Shakespeare wurde von den deutschen Bühnen verbannt …
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Keine Stadt, keine Gruppe, die nicht dieser grauenhaften Hysterie des Hasses verfiel. Die Priester predigten von den Altären, die Sozialdemokraten, die einen Monat vorher den Militarismus als das größte Verbrechen gebrandmarkt, lärmten womöglich noch mehr als die andern, um nicht nach Kaiser Wilhelms Wort als ›vaterlandslose Gesellen‹ zu gelten. Es war der Krieg einer ahnungslosen Generation, und gerade die unverbrauchte Gläubigkeit der Völker an die einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die größte Gefahr.
Allmählich wurde es in diesen ersten Kriegswochen von 1914 unmöglich, mit irgend jemandem ein vernünftiges Gespräch zu führen. Die Friedlichsten, die Gutmütigsten waren von dem Blutdunst wie betrunken. Freunde, die ich immer als entschiedene Individualisten und sogar als geistige Anarchisten gekannt, hatten sich über Nacht in fanatische Patrioten verwandelt und aus Patrioten in unersättliche Annexionisten. Jedes Gespräch endete in dummen Phrasen wie: »Wer nicht hassen kann, der kann auch nicht richtig lieben« oder in groben Verdächtigungen. Kameraden, mit denen ich seit Jahren nie einen Streit gehabt, beschuldigten mich ganz grob, ich sei kein Österreicher mehr; ich solle hinübergehen nach Frankreich oder Belgien. Ja, sie deuteten sogar vorsichtig an, daß man Ansichten wie jene, daß dieser Krieg ein Verbrechen sei, eigentlich zur Kenntnis der Behörden bringen sollte, denn ›Defaitisten‹ – das schöne Wort war eben in Frankreich erfunden worden – seien die schwersten Verbrecher am Vaterlande.
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[-> S. 227 ] Ich hatte den Gegner erkannt, gegen den ich zu kämpfen hatte – das falsche Heldentum, das lieber die anderen vorausschickt in Leiden und Tod, den billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen wie der militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei verlängern, und hinter ihnen den Chor, den sie sich mieteten, all diese ‘Wortemacher des Krieges’, wie Werfel sie angeprangert in seinem schönen Gedicht. Wer ein Bedenken äußerte, der störte sie bei ihrem patriotischen Geschäft, wer warnte, den verhöhnten sie als Schwarzseher, wer den Krieg, in denen sie selber nicht mit litten, bekämpfte, den brandmarkten sie als Verräter. Immer war es dieselbe, die ewige Rotte durch die Zeiten, die die Vorsichtigen feige nannte, die Menschlichen schwächlich, um dann selbst ratlos zu sein in der Stunde der Katastrophe, die sie leichtfertig beschworen.

Stefan Zweig, “Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers“. Das Buch entstand kurz vor Zweigs Tod in den letzten Jahren (von 1939 bis 1941) seines Exils und erschien postum 1942 in Kooperation der Verlage Hamish-Hamilton London und Bermann-Fischer Verlag AB in Stockholm.