Irak nach sieben Jahren Krieg und Besatzung – eine Bestandsaufnahme

erschienen in Mario Tal (Hrsg), Umgangssprachlich: Krieg – Testfall Afghanistan und deutsche Politik, PapyRossa Verlag Sept. 2010

Die Anschläge vom 11. September machten für Washington nicht nur den Weg frei für einen Angriff auf Afghanistan, sondern auch auf den Irak. Sturmreif war das ölreiche Land am Golf nach dem ersten Krieg 1991, zwölfjährigem Embargo und regelmäßigen Luftangriffen auf sogenannte „Flugverbotszonen“ schon lange. Der Krieg traf eine Gesellschaft, die aufgrund der nahezu totalen Handelsblockade keinerlei Reserven mehr besaß. Wer sich erhofft hatte, nach dem Sieg der Invasoren würden sich wenigstens die Lebensbedingungen wieder verbessern, sah sich bald getäuscht. Das Land trieb immer tiefer in die Katastrophe.

Durch die vollständige Zerschlagung des irakischen Staates gelang es den USA, den Irak auf absehbare Zeit als Regionalmacht auszuschalten. Bei der Umsetzung aller übrigen Ziele blieben die USA allerdings stecken. Hauptsächlicher Nutznießer des Krieges wurde der Iran, der nach Wegfall des Konkurrenten zur regionalen Vormacht aufstieg und auch im Irak selbst großen Einfluss gewann. Offiziell hält Washington an dem vereinbarten Truppenabzug bis Ende 2011 fest. Experten gehen jedoch davon aus, dass dies nicht das letzte Wort sein wird. Denn unter diesen Umständen käme ein Rückzug einer Niederlage gleich.

Besatzungsrealität

Der Einmarsch erfolgte 2003 unter dem Vorwand, Restbestände chemischer und biologischer Massenvernichtungswaffen des Irak würden die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten gefährden. Als danach wie zu erwarten keine gefunden wurden, stieg die Befreiung der Iraker vom Joch der Diktatur Saddam Hussein und der Aufbau eines demokratischen Staates zum offiziellen Ziel des Krieges und der Besatzung auf.

Die Bilanz dieser „Befreiung“ ist katastrophal. Mehr als eine Million Iraker hat sie nicht überlebt, über vier Millionen, d.h. jeder sechste wurde zum Flüchtling. Die Lebensbedingungen sind auch nach sieben Jahren angeblichen Wiederaufbaus schlechter als in den schlimmen Jahren des Embargos.

Katastrophale Lebensbedingungen

Insgesamt erlitt die irakische Gesellschaft in den letzten 20 Jahren einen beispiellosen Absturz. In den 1980er Jahren war der Irak von UNICEF für sein vorbildliches Bildungssystem ausgezeichnet worden. Heute sind viele Schulen halb zerfallen und geht ein erheblicher Teil der Kinder, vor allem Mädchen, aus Angst vor Gewalt, Entführung, Mädchenhandel etc. nicht in die Schule. Das einst ebenso vorbildliche und für alle Iraker kostenlose Gesundheitswesen liegt ebenfalls am Boden.[1]

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, d.h. mehr als die Hälfte der Bevölkerung kennen nichts anderes als Embargo, Krieg und Besatzung. Sie wuchsen ohne Perspektiven auf, viele sind durch Kriegserlebnisse traumatisiert. Es gibt kaum Familien, in denen nicht mindestens ein Mitglied getötet, gefangen oder misshandelt wurde. All dies hat selbstverständlich erheblich soziale Auswirkungen, die durch die ethnisch-konfessionelle Ausrichtung der Besatzungspolitik verstärkt wird.

Dem jüngsten Bericht des Internationalen Roten Kreuz zufolge haben 55% der Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und sind nur noch 20% an das Abwassersystem angeschlossen. Auch Strom gibt es nach wie vor nur stundenweise. [2]

Millionen Iraker hungern und der Nahrungsmangel weitet sich, so das irakische Zentrum für Marktforschung und Verbraucherschutz, sogar noch aus. Obwohl die hohen Ölpreise ein Mehrfaches der Summen in die Staatskassen spülen, die unter dem Embargo zur Verfügung standen, lebt nach Angaben der irakischen Zentralen Organisation für Statistik und Information mittlerweile die Hälfte der knapp 30 Millionen Iraker in äußerster Armut, davon sieben Millionen unterhalb des Existenzminimums von zwei US-Dollar pro Tag.[3]

Gründe sind vor allem Inflation, hohe Arbeitslosigkeit und das Zusammenbrechen des Systems zur Verteilung subventionierter Nahrungsmittel, von dem 60% der Bevölkerung völlig abhängig sind. Dieses, 1995 als Teil des Öl-für-Nahrung-Programms aufgebaute System, galt vor 2003 als vorbildlich, wenn auch unterfinanziert. Trotz steigender Öl-Einnahmen brach das Versorgungssystem aber auf Grund von Besatzungspolitik, Krieg und Korruption sowie dem Druck des Internationalen Währungsfonds immer mehr zusammen. Verteilt werden statt dem früheren guten Dutzend bloß noch fünf Grundnahrungsmittel und dies oft nur in 8 bis 10 Monaten im Jahr. [4]

Eine wesentliche Ursache für den Nahrungsmangel ist auch der drastische Rückgang der heimischen landwirtschaftlichen Produktion – nicht zuletzt aufgrund der 2003 erzwungenen völligen Öffnung des Landes für zollfreie Importe und dem Wegfall staatlicher Unterstützung.

Das UN-Programm für menschliche Siedlungen (UN-HABITAT) berichtete im Juli 2009, dass dem Land 1,3 Millionen Wohnungen fehlen, über die Hälfte der Bevölkerung in „Slum-ähnlichen Bedingungen“ lebt und sich die Situation in den kommenden Jahren noch verschlimmern wird.[5] Das Krankenhaussystem kämpft immer noch mit dem Mangel an Personal, Betten und Ausrüstung und es fehlen den Angaben von HABITAT zufolge auch 4.000 Schulen. Dafür hat die Regierung damit begonnen, Mädchen und Jungen in den Schulen zu trennen.[6]

Ein vertraulicher Untersuchungsbericht der US-Regierung, der der New York Times zugespielt wurde, bestätigt, was jeder Iraker am eigenen Leib spürt: die 120 Milliarden Dollar, die offiziell bis Mitte 2008 in den Wiederaufbau des Irak gepumpt worden waren – der Großteil davon irakisches Geld – sind nahezu wirkungslos verpufft. Der größte Teil versackte in den Taschen der großen amerikanischen Konzerne, der kleinere im Sumpf der ungeheuerlichen Korruption im Land. Erfolgsmeldungen des Pentagons, so der Bericht, waren oft schlicht erlogen.[7]

Besatzung und Polizeistaat

Ohne Rücksicht auf die Folgen hatten die Besatzer bald nach dem Einmarsch Armee und Polizei aufgelöst und die staatlichen Strukturen weitgehend zerschlagen. Mit der Einführung völkischer und konfessioneller Kriterien in Regierung und Verwaltung betrieb man von Anfang an eine Spaltung der Gesellschaft. Diese schuf erst die Verhältnisse, in denen sich die kriminelle und religiös motivierte Gewalt entfalten konnte, mit der anschließend die fortdauernde Präsenz der Besatzungstruppen gerechtfertigt wurde.

Auf dieser Grundlage schuf der von den USA eingeleitete „politische Prozess“ ein abhängiges Regime, getragen von extremistischen Parteien, die im Windschatten der Besatzung ihre separatistischen bzw. sektiererisch-islamistischen Ziele verfolgen. Die Milizen dieser Parteien stellen das Gros der Sicherheitskräfte und werden für einen großen Teil der Gewalt im Land verantwortlich gemacht.

Entgegen dem vorherrschenden Bild ist der Krieg im Irak noch lange nicht zu Ende. Die militärischen Auseinandersetzungen sind zwar stark zurückgegangen. Viele Städte gleichen nun aber düsteren Festungen. Bagdad beispielsweise ist „ein Hochsicherheitsgefängnis mit 1000 Betonmauern, 1000 Schießtürmen und 1000 schwerbewaffneten Checkpoints“ geworden, wie der Publizist und ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer bei seinem Besuch im Sommer 2009 feststellte. Er erlebte die nach wie vor massive Präsenz von US-Militär in der Stadt am eigenen Leib. Auch sein Wagen wurde mehrfach gestoppt und musste im gleißenden Scheinwerferlicht ausharren, während die grünen Laserstrahlen eines Panzergeschützes durchs Wageninnere zuckten und Hubschrauber wie Hornissen im Tiefflug über ihnen donnerten. Es war wie ein irrealer Albtraum, so Todenhöfer – aber: Alltag in Bagdad. [8]

Einen erschütternden Einblick in den Alltag der Besatzung liefert auch die Videoaufnahme eines Kampfeinsatz zweier US-Kampfhubschrauber, die Anfang April von WikiLeaks, einem auf die Veröffentlichung geheimer Dokumente spezialisierten Internetportal, öffentlich gemacht wurde. Die Aufnahmen zeigen, wie aus den Apache-Hubschrauber am 12. Juli 2007 willkürlich elf irakische Zivilisten niedergemäht werden und anschließend auch zwei zu Hilfe eilende Männer. Dieser Kampfeinsatz war einer von vielen Tausend Einsätzen der US-Luftwaffe in diesem Jahr. Viele davon dürften ähnlich abgelaufen sein. Doch unter den Toten vom 12. Juli waren auch zwei Mitarbeiter von Reuters, die den Fall vor dem Vergessen bewahrten.[9]

### Beginn Kasten (Kommentar aus SZ) ###

Soldaten als Mörder

Das Video dauert knapp zwanzig Minuten, und es zeigt ein Gemetzel. Aufgenommen im Sommer 2007 von der Bordkamera eines US-Kampfhubschraubers, ist eine Kreuzung in Bagdad zu sehen; im Fadenkreuz steht eine Gruppe Männer, unter ihnen ein Fotograf der Nachrichtenagentur Reuters. Ein paar Minuten später wackelt das Bild, ein Maschinengewehr rattert, zwischen den Männern explodieren Staubfontänen. Dann liegen Tote und Verletzte auf der Straße, und die Piloten gratulieren sich über Funk. Kurz darauf zerschießen sie auch noch den Kleinbus einer Familie, die den Verwundeten zu Hilfe kommen will.

Bilder vom Krieg, von leidenden und sterbenden Menschen, sind immer furchtbar. Doch das Video, das von der Organisation Wikileaks im Internet veröffentlicht wurde, ist ein besonders schockierendes Dokument. Es zeigt die ganze Willkür und die erschütternde Lässigkeit, mit der die US-Soldaten die Menschen im Irak mit Gewalt überzogen. Denn nichts in den Aufnahmen deutet darauf hin, dass es sich bei den Opfern um Aufständische oder Terroristen handelte. Die Piloten wurden nicht beschossen, sie mussten keinen kämpfenden Kameraden am Boden beistehen, es herrschte helllichter Tag, die Sicht war gut. All die Ausreden, mit denen Soldaten üblicherweise den Tod von Zivilisten zu rechtfertigen versuchen – das Video widerlegt sie. Stattdessen zeigt es schießwütige amerikanische Soldaten, die sich einreden, die umgehängte Kamera eines Pressefotografen müsse ein Gewehr sein, die dann seelenruhig ein Dutzend Menschen töten – und sich dafür auch noch auf die Schulter klopfen. Für das, was an jenem Tag an jener Kreuzung geschah, gibt es nur ein Wort: Mord.Kommentar von Hubert Wetzel (Süddeutsche Zeitung, 07.04.2010, S. 4)

### ENDE KASTEN ###

Noch immer gibt es in der total militarisierten Hauptstadt pro Tag über zehn „militärische Zwischenfälle“: Angriffe irakischer Widerstandskämpfer auf US-Truppen, Operationen von Besatzungssoldaten und Gewalttaten diverser Milizen und Terrorgruppen. Wobei viele Iraker allerdings überzeugt sind, dass bei terroristischen Anschlägen, die wahllos Zivilisten töten und ethnisch-religiösen Hass schüren, sowohl Regierungsparteien als auch ausländische Geheimdienste, Todesschwadrone und „Sicherheitsfirmen“ wie Blackwater (2009 in XE Services umbenannt) ihre Hände im Spiel haben.

Washington setzt bei seinen Bemühungen, eine stabile, indirekte Herrschaft zu etablieren, auf den einstweilen starken Mann im Irak, Ministerpräsident Nuri al-Maliki. Dieser, 2006 als Kompromisskandidat ohne nennenswerte Basis im Land angetreten, konnte seitdem eine erhebliche Machtposition aufbauen. Sukzessive besetzte er – am Parlament vorbei – Schlüsselposition in Regierung, Verwaltung, Polizei und Militär mit Getreuen aus seiner Partei oder seinem Familienclan. Durch Vergabe zehntausender neuer Posten im Staat und die freigiebige Verteilung von Geldern aus den nicht unerheblichen Öl-Einnahmen unter Unternehmern, Stammesführern etc., die bereit waren sich ihm anzuschließen, konnte er seine Basis erheblich verbreitern. Mit US-Hilfe konnte er sich zudem einen eigenen Geheimdienst und gut ausgerüstete militärische Spezialeinheiten zulegen. Diese, von „Green Berets“ ausgebildeten, 4.500 Mann starken „Iraq Special Operations Forces“ (ISOF) operieren teils offen, teils verdeckt – unter Malikis Oberbefehl und unter Aufsicht der US-Armee, aber ohne sonstige Kontrolle irakischer Institutionen. Malikis Partei hatte im Unterschied zu seinen Koalitionspartnern keine Miliz. Die neuen Einheiten, die offenbar auch – wie ihre Ausbilder – als Todesschwadrone gezielte Exekutionen vornehmen, gelten mittlerweile jedoch als schlagkräftigste Truppe des Landes.[10] Einen kurzen Einblick in die „Arbeit“ der ISOF gab die Entdeckung eines Geheimgefängnisses, das von Malikis Leuten in Bagdad geführt wurde. Ein Viertel der 437 Gefangenen wies Spuren schwerster Folterungen auf.[11]

Was hier als sich entwickelndes demokratisches Land dargestellt wird, trägt alle Züge eines extrem repressiven Polizeistaates. Viele Beamte, Geistliche und Politiker im Irak, die der britische Guardian im April 2009 im Rahmen einer ausführlichen Recherche befragte, sprachen bereits von einer neuen Diktatur und verglichen Maliki mit Saddam Hussein. Sechs Jahre nach Kriegsbeginn würde das Land nach ziemlich vertrauten Linien aufgebaut, so das Fazit des Guardian: „Konzentration von Macht, schattenhafte Geheimdienste und Korruption.“ [12]

Auch andere Zeitungen, wie The Economist [13] oder Der Spiegel charakterisieren den „neuen Irak“ immer öfter als Polizeistaat.  Im kurdischen Teil, wo sich seit bald zwei Jahrzehnten die beiden Clans der Parteiführer Jalal Talabani und Massud Bazani die Herrschaft und die großen Geschäfte teilen, sieht es, so Spiegel-Korrespondent Bernhard Zand, nicht besser aus: „Wir haben 10 Stunden Strom am Tag, wir haben 15 Stunden Redefreiheit und 24 Stunden Korruption“, lautet ein Witz der Kurden im Nordirak. [14]

Die meisten namhaften Persönlichkeiten, die nicht zur Kollaboration bereit waren – von ehemaligen Bürgermeistern über unabhängige Wissenschaftler bis hin zu Künstlern –, sind daher, sofern sie nicht ermordet wurden oder im Kerker landeten, längst ins Ausland geflohen.[15] Bedroht und verfolgt sind aber nicht nur Angehörige der gegen die Besatzung und die Maliki-Regierung gerichteten Opposition, sondern in hohem Maß auch Journalisten. Diese müssen kritische Recherchen häufig mit körperlichen Misshandlungen, willkürlichen Verhaftungen oder gar dem Tod büßen. Durch saftige Geldstrafen versucht Maliki auch kritische Berichte westlicher Medien zu unterbinden: So wurde der Guardian zur Zahlung von 100 Millionen Dinar (ca. 65.000 Euro) verdonnert, weil er sich im oben erwähnten Artikel kritisch mit dem autokratischen Gehabe Malikis auseinandersetzte. Die New York Times und die Agentur Associated Press haben ähnliche Strafbefehle erhalten, die auf einem neuen Gesetz beruhen, das kritische Artikel über den Premier oder die Präsidenten des Landes verbietet.[16]

So verdienstvoll diese wenigen kritischen Berichten sind, so richten sie ihr Augenmerk stets nur auf die irakische Seite. Die dominierende Rolle der Besatzer wird völlig ausgeblendet. Dabei sind diese durch unzählige „Berater“ in allen wesentlichen Bereichen involviert und waren auch von Anfang an in hohem Maße in die Korruption verwickelt – Besatzung und „Polizeistaat“ sind nur zwei Seiten einer Medaille.

Zu Krieg und Repression kommen noch die ständige Gefahr verheerender Terroranschläge und ein hohes Maß von Gewaltkriminalität, das in den letzten Jahren noch anstieg. Der Irak ist daher nach wie vor eines der gefährlichsten Pflaster der Welt.[17]

Besatzung in der Sackgasse

Nicht nur die Verbesserung der Lebensbedingungen lässt auf sich warten, auch die Besatzer kommen mit ihren Plänen im Irak nicht voran. Sie sind nach wie vor die dominierende Macht, ihr Einfluss hat sich aber deutlich verringert. Im Herbst 2008 musste die Bush-Regierung ein Stationierungsabkommen unterzeichnen, dass – obwohl nur halbherzig befolgt – den Handlungsspielraum der US-Truppen und damit letztlich auch ihre Autorität im Land spürbar einschränkt.

Durch eine erfolgreiche Strategie des Teile und Herrsche gelang es der Besatzungsmacht ab 2007 den bis dahin stetig wachsenden militärischen Widerstand einzudämmen. Er setzt den Besatzungs- und Regierungstruppen zwar nach wie vor zu, aber auf einem wesentlich niedrigeren Niveau. Ausgebremst waren gleichzeitig jedoch auch die ehrgeizigen Pläne Washingtons. Neben der dauerhaften Ausschaltung des Iraks als Regionalmacht und der permanenten Stationierung eigener Truppen zählte dazu die radikale neoliberale Umwandlung des Iraks und der direkte Zugriff US-amerikanischer Konzerne aufs irakische Öl. Schließlich sollte der Irak im Rahmen der sogenannten „Greater Middle East Initiative“ als Beispiel und Ausgangsbasis für die Transformation der arabischen und islamischen Staaten von Nordafrika bis zum kaspischen Meer in pro-amerikanische, formal-demokratische, neoliberale Marktwirtschaften dienen.

Letzeres scheiterte am irakischen Widerstand, doch an den Ambitionen, eine dauerhafte Kontrolle über den Irak zu errichten, hat sich in Washington nichts geändert. Nichts zeigt dies so anschaulich wie die riesige US-amerikanische Botschaftsfestung im Zentrum Bagdads. Auch Obama macht bisher keinerlei Anstalten, den riesigen Stab von über tausend Mitarbeitern – weit mehr als das britische Empire für die Verwaltung des zehnmal so großen Indien im Einsatz hatte – zu reduzieren. Im Gegenteil: Es gibt bereits konkrete Pläne, den Botschaftskomplex, der schon jetzt so groß wie der Vatikanstaat ist, auf die doppelte Größe auszubauen.[18] Zweifelsohne soll nach dem Willen der US-Führung hier auch in Zukunft das eigentliche administrative Herz des Irak stehen, das mit Hilfe von zahlreichen Berater auf allen Ebenen der irakischen Regierung und Verwaltung die wesentlichen Entscheidungen im Irak steuert.

Ob dies jedoch auf Dauer möglich sein wird, ohne die ohnehin dünne Fassade eines souveränen demokratischen Staates zu demontieren, ist zweifelhaft. Denn vor allem der politische Widerstand wurde in den letzten Jahren auf allen Ebenen immer stärker und effektiver, selbst im irakischen Parlament. Zwar waren hier, nach den entsprechend konzipierten Wahlen, im Dezember 2005 überwiegend US-Verbündete eingezogen; die auf konfessionelle Spaltung und Ausverkauf angelegte Besatzungspolitik wie auch die pro-iranische Ausrichtung der Regierungspartien waren jedoch auch für viele dieser Verbündete, wie beispielswiese den Ex-Interimspremier Ijad Allawi, nicht tolerierbar. Sie schlugen sich zunehmend auf die Seite der nationalistischen Opposition. Dadurch und aufgrund der einhelligen Stimmung in der Bevölkerung, der auch die Maliki-Regierung immer stärker Rechnung tragen musste, wurden viele wichtige Maßnahmen und Projekte blockiert. Dies reicht von der Gründung einer „staatlichen Anstalt für Privatisierung“, die immer noch auf Eis liegt, bis zum neuen Ölgesetz. Letzteres ist für Washington praktisch unverzichtbar, da erst ein solches neues Gesetz eine formal legale Privatisierung der Ölproduktion ermöglichen würde.

Magere Beute

Zwar bot die irakische Regierung 2009 in spektakulären Auktionen ausländischen Konzernen Abkommen zur Ausbeutung von umfangreichen irakischen Ölfeldern an. Diese Geschäfte sind aber weit von dem entfernt, was die westlichen Öl-Multis anstreben und wofür – nicht zuletzt – die Bush-Regierung in den Krieg zog. Es handelt sich um reine Dienstleistungsverträge mit dem Ziel, die Fördermengen von Ölfeldern drastisch zu steigern. Die Auftragnehmer bekommen als Entgelt nur einen festen Betrag zwischen 1,20 und 2,00 US-Dollar für jedes zusätzlich geförderte Barrel Öl. Bei Laufzeiten von 20 Jahren sind dabei durchaus zweistellige Milliardenbeträge zu verdienen. Die ausländischen Konzerne erhalten aber nach wie vor weder Anteile am Öl noch Förderlizenzen. Von den großen US-Konzernen kam allein Exxon Mobil zum Zuge, ansonsten dominieren staatliche asiatische Firmen, allen voran die chinesische National Petroleum Corporation CNPC. Da für die Staatskonzerne nicht maximale Renditen im Vordergrund stehen, sondern Ausbau und Sicherung einer langfristigen Versorgung der heimischen Wirtschaft, war für sie das Angebot durchaus attraktiv. [19]

Doch auch solche Serviceverträge sind vielen Irakern aufgrund des Umfangs und der langen Laufzeiten schon zu viel. Noch sind die Verträge daher nicht unter Dach und Fach. Im Parlament, das an sich nach dem immer noch gültigen Gesetz aus der Baath-Ära alle Verträge mit ausländischen Firmen billigen muss, regt sich Widerstand und mehr noch in der staatlichen Ölindustrie – vom Management bis zu den Gewerkschaften. Neue Regierungen könnten die auf wackliger Rechtsgrundlage geschlossenen Verträge jederzeit annullieren.[20]

Kriegsgewinnler

Die USA stecken in einem Krieg fest, den sie auch nach Ansicht vieler US-Experten nicht gewinnen können. Die direkten, in den US-Haushalten ausgewiesenen Kosten des Irakkriegs belaufen sich bereits auf knapp 750 Milliarden US-Dollar und übersteigen damit bereits deutlich die in Vietnam verfeuerten 686 Milliarden (in heutigen Preisen). [21] Die gesamten Kriegskosten werden von Wirtschaftsexperten auf über 3 Billionen Dollar geschätzt.[22]

Für viele US-Unternehmen wie Halliburton, Bechtel Group, Parsons Delaware, Fluor Corporation, wurde der besetzte Irak aber zur Goldgrube. KBR, bis vor kurzem noch Teil von Dick Cheneys Halliburton, hat allein bis 2007 über 20 Mrd. US-Dollar erhalten undder Baukonzern Bechtel kassierte mindestens 2,8 Mrd. US-Dollar. [23] Die berüchtigten privaten Militär- und Sicherheitsfirmen DynCorp International und Blackwater (inzwischen Xe Services) gehören mit Einnahmen von über zwei bzw. einer halben Milliarden Dollar ebenfalls zu den Top-Gewinnern. Weit mehr noch profitierten die westlichen Rüstungskonzerne von den Kriegen in Afghanistan und im Irak, auch die deutschen.[24]

Iran gestärkt

Der eigentliche Gewinner des Krieges ist jedoch der Iran. Während die USA im Irak feststecken, stieg er durch die Zerschlagung des bisherigen Gegengewichts zur regionalen Vormacht auf. Über die engen Verbindungen zu den schiitischen Regierungspartien und vielen anderen schiitischen Kräften wie auch zu den beiden Kurdenparteien, die die kurdische Autonomieregion beherrschen, hat die iranische Führung einen starken Einfluss auf die Entwicklung des Nachbarlandes. Und zum Ärger US-amerikanischer Konzerne machen iranische Firmen mittlerweile auch die besten Geschäfte im Irak. Das große iranische Engagement hat dabei durchaus auch seine Vorteile für die Iraker. So erwiesen sich Wiederaufbrauprojekte mit iranischen Partnern als wesentlich erfolgreicher als die, die von den Besatzern geplant und in Auftrag gegeben wurden. Die Grenzregionen zum Iran haben dadurch beispielsweise die beste Stromversorgung im Land.

Der Iran ist im Irak strategisch klar im Vorteil. Das einzige nennenswerte Gegengewicht zur – nicht zuletzt deswegen in Washington als ein Hauptfeind eingestufte – islamischen Republik bilden die zivilen und militärischen Besatzungskräfte der USA. Für viele US-Experten aus den einflussreichen Think Tanks des Landes ist dies ein Grund mehr, eine bedeutende Streitmacht zwischen Euphrat und Tigris zu belassen.

Ohne eine ausreichende militärische Präsenz werden die USA ihre Dominanz gegenüber dem inneren Widerstand und der äußeren Einflussnahme tatsächlich nicht behaupten können. Da zudem die Errichtung permanenter Militärstützpunkte am Persischen Golf schon seit langem ein wesentliches Ziel der US-amerikanischen Irak-Politik ist, ist mit einem vollständigen Abzug nicht zu rechnen – zumindest nicht mit einem freiwilligen.

Vollständiger Abzug nicht in Sicht

Im Wahlkampf hatte Obama versprochen, die im Irak stationierten US-Truppen innerhalb von sechzehn Monaten abzuziehen. Als er im Februar 2009 seine Pläne für den Irak vorstellte, war nur noch vom Abzug der „Kampftruppen“ bis August 2010 die Rede. Der Rest, mehr als die Hälfte der ca. 130.000 Soldaten, sollte aber erst, wie von Amtsvorgänger Bush bereits im Stationierungsabkommen zugesichert, bis Ende 2011 das Land verlassen. Dieser Rückzug soll jedoch, so Obama, „verantwortungsvoll“ erfolgen, also lediglich dann, wenn es die politische und militärische Lage vor Ort erlaubt. Das war in seinem ersten Amtsjahr offensichtlich noch nicht der Fall. Erst ab Januar 2010 wurde die Truppenstärke tatsächlich signifikant um 25.000 auf 96.000 Soldaten reduziert. Die betroffenen Brigaden waren dringend für die massive Aufstockung der Truppen in Afghanistan benötigt worden. Ein Teil der abgezogen Soldaten wurde jedoch durch private Söldner ersetzt.

Gemäß Stationierungsabkommen mussten sich die US-Einheiten ab Juni 2009 aus den Städten zurückziehen. Der Abzug dieser „Kampftruppen“ ist vielerorts jedoch nur Etikettenschwindel. Zehntausende US-Soldaten sind in den Städten verblieben und führen nun als „Trainings- und Unterstützungstruppen“ den Kampf gegen die Opposition fort.[25] Vor allem in den Nordprovinzen, rund um Mosul und Baquba führen US-Truppen noch regelmäßig große Militäroperationen durch.

Selbstverständlich möchte Obama die Truppenzahl gerne deutlich verringern, um so den sichtbaren Eindruck von Besatzung zu vermindern, die immensen Kosten zu reduzieren und weitere Kräfte für Afghanistan freizumachen. Eine solche Reduzierung würde aber erfordern, dass die Irakisierung der US-Herrschaft im Irak funktioniert, d.h. Regierung und Armee den größten Teil des Kampfes gegen ihre Gegner selbst übernehmen können. Das wird nach Einschätzung der kommandierenden US-Generäle aber noch lange dauern. Sie hatten daher von Anfang an deutlich gemacht, dass sie die im Stationierungsabkommen vereinbarten Abzugstermine keinesfalls für verbindlich halten. Einen vollständigen Abzug haben sie bisher kaum ernsthaft in Betracht gezogen. So gab Generalstabschef George Casey z.B. im Mai 2009 bekannt, dass seine langfristigen Planungen für die US-Armee Kampftruppen im Irak für ein weiteres Jahrzehnt vorsehen.[26]

Auch der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki hat bereits mehrfach laut über eine Verlängerung der US-Truppen-Präsenz über 2011 hinaus nachgedacht.[27] Auch er weiß, dass sich seine Regierung ohne die US-Armee nicht lange halten könnte. Auf die eigenen Truppen ist wenig Verlass. Die Loyalität und Kampfmoral vieler Einheiten ist zweifelhaft und die neue Armee verfügt auch über keine der High-Tech-Waffen, mit denen die Besatzer dem Widerstand bisher Paroli bieten konnten, wie minenresistente Fahrzeuge, Kampfflugzeuge, Drohnen und Hubschrauber. Eine richtige irakische Luftwaffe kommt für Washington gar nicht in Frage.[28]

Auch wenn Obama immer wieder versichert, die Präsenz US-amerikanischer Truppen werde im Dezember 2011 enden, deutet alles darauf hin, dass dies nicht das letzte Wort sein wird. So sprach General Ray Odierno beispielsweise im Februar – angesichts zunehmender Spannungen und Gewalt im Irak – von „Notfallplänen“, die einen längeren Verbleib vorsehen. [29] Auch die Versicherung von US-Verteidigungsminister Robert Gates, dass eine Änderung der Abzugspläne nur bei einer „sehr bedeutenden Verschlechterung der Situation im Irak“ in Frage käme, ist alles andere als eine klare Absage an eine Fortsetzung der Besatzung.[30]

Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass die fünf sogenannten Mega-Basen, die seit 2003 mit allem Komfort ausgebaut wurden, geschlossen oder übergeben werden sollen.[31] Vermutlich werden die USA für die Zeit nach 2011 ein neues Stationierungsabkommen, ähnlich z.B. dem mit den Philippinnen, anstreben. Zur Not bietet jedoch auch das SOFA genügend Schlupflöcher zur Legitimierung einer weiteren Präsenz. Schon die Feststellung einer inneren Bedrohung des „demokratischen Systems“ des Irak oder „seiner gewählten Institutionen“ würde nach Artikel 27 als Rechtfertigung ausreichen. [32]

Parlamentswahlen

Um die Truppen auf die gewünschte Zahl von etwa 50.000 Soldaten reduzieren zu können, muss das neue irakische Regime stabil sein und sich selbst behaupten können. Daher waren für Washington die Parlamentswahlen am 7. März 2010 von entscheidender Bedeutung. Sie sollten, so die Hoffnung, die Konsolidierung der angestrebten Nachkriegsordnung einen entscheidenden Schritt voranbringen. Daneben sollten sie der zunehmend kriegsmüden Öffentlichkeit demonstrieren, dass der Irak auf einem guten Weg ist und dem Krieg so nachträglich noch Legitimation verleihen.

Viele westliche Kommentatoren reagierten tatsächlich mit großer Begeisterung auf den formal erfolgreichen Urnengang. Allein aufgrund der gemeldeten akzeptablen Wahlbeteiligung von 62% sahen sie die Demokratie im Irak gefestigt und das Land auf einem guten Weg. Manche, wie Jan Ross in der ZEIT vom 11.3.2010 sehen nun sogar George W. Bush, Dick Cheney, Tony Blair und die anderen Drahtzieher des Krieges nachträglich im Recht.

Doch auch diese Wahlen fanden wieder unter Besatzungsbedingungen statt und konnten schon deswegen weder fair noch frei sein. Sie wurden von vielfältigen Manipulationen, verstärkter Repression bis hin zur Ermordung politischer Gegner überschattet. Über 500 säkulare und sunnitisch-nationalistische Kandidaten, darunter prominente Parteiführer und Parlamentsabgeordnete, wurden wegen angeblicher Nähe zur verbotenen Baath-Partei aus den Wahllisten gestrichen. Der radikalere Teil der Opposition ist im Exil oder im Untergrund und war daher von vornherein ausgeschlossen.

Der Ausschluss war eine Reaktion der schiitischen Regierungsparteien auf die sinkenden Wahlchancen. Die Provinzwahlen im Januar 2009 hatten sehr deutlich gezeigt, wie überdrüssig die Iraker der spalterischen Politik religiöser Hardliner waren. Sie zeigten ein klares Votum für einen einheitlichen, zentralen Staat und die Wiederbelebung der alten irakischen nationalen Identität. Mit der neuen Entbaathisierungs-Kampagne wollten die schiitischen Parteien nicht nur gewichtige Gegner aus dem Rennen werfen, sondern die Debatte auf religiöse Gegensätze zu Sunnismus und säkularem Nationalismus, gleichgesetzt mit „Baathismus“, lenken. Unangenehme Themen, wie das Versagen bei Versorgung und Wiederaufbau, die ungeheure Korruption oder die mangelnde Sicherheit konnten so bei der konservativ-schiitischen Wählerschaft in den Hintergrund gedrängt werden.

Während die Wahlbeteiligung insgesamt zurückging, war sie in den Provinzen, in denen der Widerstand stark ist, überdurchschnittlich hoch. Ein Zeichen dafür, dass viele sich erhofften, durch die Wahlen das von den USA eingesetzte Regime beseitigen und so dem Ende der Besatzung näher kommen zu können.

Die Stimmen der Opposition konzentrierten sich auf die säkulare „Irakische Nationalbewegung“, Al-Iraqija, ein Wahlbündnis aus der Partei des Ex-Interimspremiers Ijad Allawi und nationalistischen Parteien, die in mehr oder weniger radikaler Opposition zur Besatzung stehen. Dieses Bündnis mit dem einstigen engen US-Alliierten, der als Premier u.a. für die verheerenden Angriffe auf Falludscha im April 2004 mitverantwortlich war, fiel vielen Besatzungsgegnern sicherlich schwer, erwies sich jedoch als erfolgreich. Trotz der zahlreichen Manipulationen wurden ihm die meisten Sitze zugesprochen. Es errang 91, die „Rechtsstaatskoalition“ des Amtsinhabers 89 der 325 Sitze.

Zusammen haben allerdings die bisherigen schiitischen und kurdischen Regierungsparteien weiterhin die Mehrheit. Alles deutet darauf hin, dass sie auch die nächste Regierung stellen. Ihre Basis ist allerdings noch schwächer als zuvor. [[In dieser recht fragilen Koalition bildet die Bewegung Muqtada al-Sadrs, die als Teil der schiitischen Allianz antrat, mit über 12 Prozent der Sitze einen entscheidenden Block, der bisher die Unterstützung einer zweiten Amtszeit Malikis ausschloss. Die Sadristen, stramme Nationalisten und entschiedene Gegner der US-Besatzung, haben zudem schwer verdauliche Forderungen für eine Regierungsbeteiligung gestellt, darunter Druck auf Washington, den Abzug der US-Truppen zu beschleunigen, und keinerlei Zugeständnisse an die Kurden zu machen. ]]

Bei einer Neuauflage der kurdisch-schiitischen Regierung wird die Wut ihrer Gegner groß sein und sich in heftigen Protesten über die diversen Wahl-Manipulationen entladen, die rasch auch eskalieren könnten. Viele, die sich dann um die Hoffnung betrogen fühlen, ihr Ziel mit politischen Mitteln erreichen zu können, werden es vermutlich nicht bei verbalen Protesten belassen und der militärische Widerstand wird voraussichtlich zunehmen. Schon jetzt haben, so der Eindruck US-amerikanischer Geheimdienste, bewaffnete Gruppen wieder erheblichen Zulauf bekommen.

Fazit

Die Entwicklung brachte die Besatzungsmacht in ein schwieriges Dilemma. Einerseits setzt sie nach wie vor auf al-Maliki. Herausforderer Allawi, der bei einem Besuch in Washington Obama für eine alternative Option erwärmen wollte, wurde nicht einmal ins Weiße Haus vorgelassen. Zentraler Punkt ihrer Irak-Strategie ist jedoch auch, oppositionelle sunnitische und säkulare Kräfte durch eine stärkere Beteiligung an der Macht einzubinden und dadurch das neue Regime zu stabilisieren. Dies wiederum ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, die Zahl der eigenen Truppen erheblich verringern zu können. Washington hatte gehofft, Maliki als Mann der Mitte aufbauen zu können, als starken Mann, der von Vielen als kleineres Übel akzeptiert werden könnte. Maliki steuert nun jedoch genau in die andere Richtung: im Schulterschluss mit den pro-iranischen Parteien auf Konfrontationskurs gegen säkulare und sunnitische nationalistische Kräfte. Die Gewalt nahm ab März 2010 sprunghaft zu – sowohl Bombenanschläge auf Regierungseinrichtungen und Zivilisten wie auch Attentate, Razzien und Massenverhaftungen gegen oppositionelle Politiker und Parteien.[33] Sie kann jederzeit weiter eskalieren.

Angesichts der sich zuspitzenden Situation haben die US-Kommandeure ihre Pläne für eine Aussetzung des Truppenabzugs konkretisiert.[34] Der Spielraum dafür wird jedoch durch die massive Truppenerhöhung in Afghanistan beschränkt. Sollte der Unmut über den Wahlausgang in gewalttätige Proteste umschlagen und der militärische Widerstand zunehmen, könnten die verbleibenden Besatzer bald in eine schwierige Lage kommen. Die US-Regierung müsste sich dann entscheiden: entweder zu akzeptieren, dass das Irak-Projekt vorerst gescheitert ist und tatsächlich alle Besatzungskräfte – militärische wie zivile – abzuziehen oder neue Kampfeinheiten an Euphrat und Tigris zu schicken. Bei einem offenen Bruch der Abzugsvereinbarungen würde die Geduld der meisten Iraker jedoch noch weit mehr strapaziert und die Besatzungsmacht müsste mit einem noch breiteren Widerstand auf allen Ebenen rechnen als zuvor.


[1] siehe z.B.: Iraq’s once-envied health care system lost to war, corruption, McClatchy Newspapers, 18.5.2009

[2] Iraq: coping with violence and striving to earn a living, ICRC, 30.03.2010

[3] 7 million Iraqis exist below poverty line, Azzaman, 9.4.2010. siehe auch den detaillierten, allerdings überwiegend auf offiziellen irakischen Zahlen beruhenden Bericht des UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) im „Consolidated Appeal for Iraq and the Region 2009“ v.19.11.2009

[4] IRAQ: State food aid package slashed, IRIN News, 1.4.2010

[5] Fact sheet: Housing & shelter in Iraq, UN Human Settlements Program (UN-HABITAT), 5.10.2010

[6] Iraq to separate boys and girls in schools, Al Sumaria TV, 28.12.2009

[7]Official History Spotlights Iraq Rebuilding Blunders”, NYT, 14.12.2008

[8] Jürgen Todenhöfer, „Sommertage in Bagdad – Betonmauern, Schießtürme, Leben im Mangel: Die USA haben den Irak nicht befreit, sondern vergewaltigt und zerbrochen“, Berliner Zeitung, 10.10.2009

[9] Das Video, Transkripte des Funkverkehrs und Hintergrundinformationen findet man auf einer eigenen Internetseite, die WikiLeaks eingerichtet: www.collateralmurder.com

[10] Shane Bauer, Die schmutzige Brigade von Bagdad, Le Monde diplomatique, 10.7.2009

[11] Secret prison revealed in Baghdad, Los Angeles Times, 19.04.2010

[12]Six years after Saddam Hussein, Nouri al-Maliki tightens his grip on Iraq”, The Guardian, 30.4.2009

[13]Iraq’s freedoms under threat – Could a police state return?„, The Economist, 3.9.2009

[14] Bernhard Zand, „Irak – Eine Art Machtrausch“, DER SPIEGEL, 19.10.2009

[15] siehe auch: J. Guilliard, Die kulturelle Säuberung des Irak, Ossietzky 7/2010

[16] Iraqi court rules Guardian defamed Nouri al-Maliki, The Guardian, 10.11.2009

[17] Iraqis face new threat: brutal violence, Plain Dealer, 21.9.2009.
Selbst der “2009 Human Rights Report: Iraq” des U.S. State Department vom 11.3.2010 oder die Studie “Criminals, Militias, And Insurgents: Organized Crime In Iraq”, des Strategic Studies Institute der US-Armee vom Juni 2009 vermitteln ein recht düsteres Bild

[18] U.S. Embassy in Baghdad has plans to double in size, Foreign Policy, 7.1.2010

[19] siehe J. Guilliard „Magere Beute“, junge Welt, 31.12.2009

[20] J. Guilliard, Irak: Im Clinch ums Öl, IMI-Analyse 2009/035

[21]The Cost of Iraq, Afghanistan, and Other Global War on Terror Operations Since 9/11”, Congressional Research Service CSR, 14.7.2008, “Costs of Major U.S. Wars”, CSR 24.7.2008, Cost of War, National Priorities Project

[22] Joseph Stiglitz/Linda Bilmes, „Die wahren Kosten des Krieges. Wirtschaftliche und politische Folgen des Irak-Konflikts“, München 2008

[23]Baghdad Bonanza — The Top 100 Private Contractors in Iraq and Afghanistan”, Center for Public Integrity, Nov. 2007

[24] J. Guilliard, Kontrollierte Plünderung – Die Ökonomie des Irak-Krieges, junge Welt, 05.06.2008

[25] Jane Arraf, To meet June deadline, US and Iraqis redraw city borders, Christian Science Monitor, 19.5.2009

[26] Dahr Jamail, Operation Enduring Occupation, t r u t h o u t | Op-Ed, 18.3.2010

[27] Iraqi Prime Minister Open to Renegotiating Withdrawal Timeline, , Washington Independent, 23.7.2009

[28] Gates Says US Air Force May Remain in Iraq Beyond 2011, Voice of America, 11.2.2009

[29] U.S. plans for possible delay in Iraq withdrawal, Washington Post, 23.2.2010

[30] Gates: Only Serious Change in Security Would Delay US Troop Withdrawal from Iraq, Voice of America, 22.2.2010

[31] Dahr Jamail, Operation Enduring Occupation, a.a.O.

[32] siehe J. Guilliard, Besatzungsende nicht in Sicht, Abkommen über Truppenrückzug im Irak kaum bindend, AUSDRUCK, Dezember 2008

[33] J: Guilliard, Wahlen im Irak – Von der Fälschung zu Verhaftungen und Attentaten, junge Welt, 03.04.2010

[34] U.S. Will Slow Iraq Pullout If Violence Surges After Vote, Wall Street Journal, 23.2.2010 und Iraq violence set to delay US troop withdrawal, Guardian, 12.5.2010

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