Zur umstrittenen »Wahrheit über den Giftgasangriff auf die Kurden«

Zur umstrittenen »Wahrheit über den Giftgasangriff auf die Kurden«
Joachim Guilliard, 1.3.2003
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Am 31.1.2003 veröffentlichte die New York Times einen Artikel Stephen C. Pelletiere Prof. am Army War College der USA, über die Frage ob es sich bei den Angriffen um einen gezielten Genozid oder eine Kriegshandlung war („A War Crime or an Act of War”). Die junge Welt berichtete am 03.02. darüber unter der unglücklichen, missverständlichen Überschrift „Bushs erfundener Genozid – CIA-Veteran enthüllt Wahrheit über angeblichen irakischen Giftgasangriff auf das kurdische Halabja“
Von Ulla Jelpke erschien drei Tage später in derselben Zeitung ein Gegenartikel (Der CIA-Mann und Halabja Zur angeblichen »Wahrheit« über den Giftgasangriff auf die Kurden), der versucht unter Hinweis auf die frühere Mitarbeit in der CIA die Glaubwürdigkeit Pelletieres zu untergraben und ansonsten die gängige Version der Vorgänge wiederholt.

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Wie zu erwarten, ereifern sich nun viele darüber, dass auch eine deutsche Zeitung einmal etwas über die Zweifel berichtet, die es an bestimmten Vorwürfen bzgl. irakischer Giftgaseinsätze gibt, besonders natürlich die kurdischen Organisationen nahestehende Kreise.
In US-amerikanischen Zeitungen konnte man immer wieder darüber etwas lesen, namhafte Publizisten wie Jude Wanniski wenden sich gegen die offizielle Darstellungen. Auch Ron Paul, ein republikanischer Kongressabgeordneter aus Texas ging in einer Rede vor dem US-Kongress darauf ein und stellte fest, dass es absolut nicht sicher sei, dass der Irak chemische Waffen gegen die Kurden eingesetzt habe. Die Beweislage sei weit davon entfernt, schlüssig zu sein.
Auch wenn die Emotionen bei diesem Thema sehr schnell hochgehen: es geht, wie auch CIA-Veteran Stephen Pelletier in der New York Times ausführt, nicht darum die Baath-Regierung generell zu entlasten. Es wird weder in Abrede gestellt oder in irgendwelcher Form entschuldigt, dass der Irak im ersten Golfkrieg chemische Waffen einsetzte, noch dass der Irak mit brutalen Mitteln gegen die aufständischen Kurden vorging.
Die Frage, um die es geht ist aber, ob man tatsächlich mit ausreichender Sicherheit, wie u.a. Ulla Jelpke in jW vom 06.02.2003, von gezieltem „Völkermord“ reden kann oder wie Bushs davon, „Saddam vergase seine eigene Bürger“. Diese Vorwürfe dienen schließlich wesentlich mit zur Begründung, warum nichtkonventionelle Waffen in irakischen Händen so viel bedrohlicher seien, als in anderen – so bedrohlich, dass es einen Krieg notwendig mache, noch bevor der Irak solche Waffen wieder einsatzbereit habe.
Und hierfür gibt es berechtige Zweifel. Denn unabhängig davon, welche Seite letztlich für den Tod der Bewohner von Halabja verantwortlich ist, spricht alles dafür, dass der Angriff nicht auf sie zielte, sondern sie eher unbeabsichtigte – wenn auch in Kauf genommene – Opfer von Kampfhandlungen zwischen irakischen und kurdischen/iranischen Truppen wurden.
Davon geht auch die Toxikologin Christine Gosden aus, die als Kronzeugin der Kurden und der USA für den irakischen Giftgaseinsatz gilt. Für sie ist zwar unstrittig, dass das tödliche Gas vom Irak stammte, gemäß ihrer Stellungnahme vor einem US-Senatsausschuss 1998 dienten die irakischen Attacken aber der Zurückeroberung der zuvor von Einheiten der Patriotischen Union Kurdistan (PUK) und iranischen revolutionären Garden besetzten Stadt. Sie warf zudem der PUK vor, sie hätte die Zivilbevölkerung daran gehindert, die Stadt zu verlassen, in der Hoffnung die Iraker würden die Stadt dann nicht angreifen. Unklar bleibt bei ihrer Darstellung, ob die Angreifer dies wissen konnten.
Die iranische Armee und die unter ihrem Oberbefehl operierenden Peshmerga-Verbände hatten Tage zuvor durch einen plötzlichen Vorstoß über die Grenze die irakische Armee überrascht. Sie fegten über den gesamten, zu Halabja gehörenden Distrikt, rieben den größten Teil der irakischen Truppen auf und nahmen Tausende gefangen. Die Einheiten der PUK besetzten anschließend Halabja und Khurmal, die iranischen Truppen die Verteidigungsstellungen der irakischen Armee auf den Hügeln.
Für die Symptome, die nach Pelletiers Ansicht gegen irakisches Giftgas sprechen, hat Gosden keine schlüssige Erklärung. Sie macht einen Mix verschiedener Giftstoffe dafür verantwortlich. Die Behauptung im jW-Artikel, dass UNSCOM im Irak auf Zyanid basierende chemische Waffen fand, ist im Übrigen ebenso wenig richtig, wie die vom „Rausschmiss der Inspektoren 1998“, die zeigt, wie wenig die Autorin über das Thema weiß.
Auch für die Vorwürfe, wonach irakische Streitkräfte in vielen weiteren Fällen systematisch Giftgas gegen kurdische Zivilisten eingesetzt hätten, fehlen schlüssige unabhängige Beweise. Alle Vorwürfe beruhen im Wesentlichen auf Informationen der kurdischen Parteien und US-Quellen.
Bei aller berechtigten Anteilnahme am Schicksal der kurdischen Bevölkerung darf aber nicht vergessen werden, dass die für die kurdische Unabhängigkeit kämpfenden kurdischen Organisationen, ebenso wie die USA, ein großes Interesse daran hatten und haben, den Irak durch Gräuelberichte zu dämonisieren. Skepsis ist also stets angebracht. Schließlich wissen wir z.B. mittlerweile recht gut, wie es den NATO-Staaten mit Hilfe albanischer Organisationen und professioneller PR-Agenturen gelang, durch Übertreibungen und glatten Lügen, ein Bild der Vorgänge im Kosovo zu zeichnen, das ein militärischen Einschreiten für viele zur moralischen Notwendigkeit machte.
Menschenrechtsorganisationen wie Humans Right Watch haben dabei, wie im ganzen Jugoslawienkonflikt keine sehr rühmliche Rolle gespielt, da sie die einseitige Sichtweise der westlichen Regierungen und Medien im Wesentlichen unkritisch übernahmen.
Als Beweis für den systematischen Giftgaseinsatz gegen aufständische Kurden 1988 werden vor allem Regierungsdokumente angeführt, die die PUK 1991 nach eigenen Angaben bei ihrem Aufstand 1991 erbeutet habe. Diese Dokumente seien von der PUK dann Vertretern des US-Verteidigungsministeriums übergeben und von diesen in die USA gebracht worden, wo sie von Experten des Pentagons und von Human Rights Watch archiviert und ausgewertet wurden. Ein großer Teil der Dokumente ist auch über eine Datenbank des „Iraq Research and Documentation Project“ IRDP via Internet unter http://www.fas.harvard.edu/~irdp/ zugänglich.
Zunächst stellt sich natürlich bei dem Weg, den sie genommen haben, die Frage nach der Authentizität der Dokumente. Unabhängig davon kann das, was in dieser Datenbank als „unwiderlegbarer Beweise“ für den Giftgaseinsatz und die „genozidale Kampagne des Regime gegen die Kurden“ präsentiert werden, nur die überzeugen, die schon überzeugt sind.
„Der iranische Feind“ so heißt es beispielsweise in einem dieser Dokumente, habe die „Familien der Saboteure in den Dörfern und ländlichen Gebieten entlang der Grenze mit Medikamenten versorgt“, insbesondere mit „Medikamenten, die vor Chemiewaffen schützen“ und Iraner würden sie im Gebrauch von Gasmasken unterweisen. Auch die anderen Schriftstücke zum Thema enthalten nur Meldungen über kurdische und iranische Schutzmaßnahmen gegen Giftgasangriffe.
Das ist aber keinesfalls, wie dann ausgeführt wird, ein Beweise dafür, dass der Einsatz chemischer Waffen durch den Irak „so häufig war, dass die Iraner die Kurden mit Schutz vor Chemiewaffen ausstatten mussten“. Solche Vorsichtungsmaßnahmen liegen schließlich in der Nähe der Front zwischen zwei Konfliktparteien, die bereits chemische Waffen gegeneinander eingesetzt haben, auch so nahe.
Selbstverständlich sind nicht alle Vorwürfe über irakische Schandtaten gegen Kurden erfunden. Es ist davon auszugehen, dass im Zuge der Aufstandsbekämpfung auch massiv gegen die mit den Aufständischen sympathisierende Bevölkerung vorgegangen wurde, mit Vertreibungen, Hauszerstörungen, Verhaftungen und auch Exekutionen, so wie wir es leider von vielen anderen Ländern kennen.
Es ist auch nicht auszuschließen, dass einzelne Berichte über den Einsatz chemischer Waffen zutreffen. Auszuschließen ist aber – nicht nur nach Meinung Pelletiers – schon aufgrund des dafür ungünstigen Terrains im Nordirak, die hohe Zahl der angeblichen Opfer.
Den Vorwurf einer umfassenden Kampagne gegen die kurdische Zivilbevölkerung lässt sich mit dem bisher bekannten Beweismaterial nicht begründen. Je schwerwiegender aber die Vorwürfe, desto sicher müssen unabhängige Beweise sein und Einwände von Leuten wie Pelletier sollten, gerade, wenn es sich wie bei ihm um einen ehemaligen US-Offizier und CIA-Mitarbeiter handelt, der sich damit gegen die offizielle Linie seines Landes stellt, ernst genommen werden.
Unabhängig davon hängt der Vorwurf des Völkermords völlig in der Luft. Denn dazu bedarf es nicht nur den Beweis der Schuld der irakischen Seite sondern auch – gemäß der Definition von Völkermord –, dass die Angriffe darauf abzielten, die kurdische Bevölkerung in der betroffenen Region auszulöschen. All die, die das Ganze als irakischen „Genozid“ an den Kurden gewertet wissen wollen, blenden stets eines völlig aus: dass durch die betroffene Gegend eine Front des Krieges zwischen Irak und Iran verlief und dort große kurdische Peshmerga-Einheiten an der Seite der iranischen Armee und unter iranischem Oberbefehl kämpften.
Anhang:
Zu empfehlen ist, sich auch mal die „Original-Regierungs-Dokumente“ anzuschauen, die von der PUK zusammen mit US-Verteidigungsministeriums in die USA geschafft wurden und via Internet-Datenbank des Iraq Research and Documentation Project IRDP zugänglich ist: http://www.fas.harvard.edu/~irdp/
Sucht man auf dieser Seite nach den Beweisen für Chemiewaffeneinsätze, so findet man die folgenden drei Dokumente.
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Chemical Protection
This document not only proves the regime’s use of chemical weapons but also illustrates the people’s state of panic and need for protection from more anticipated chemical attacks.
Urgent and Confidential Telegram Issue
Time and Date: Jul 1988
To: All Branch Directorates of Security
From: Erbil Security
Record/Political Branch 2/ [number]10644. We have learned the
following:
Information has been provided to the effect that oil (Brake
fluid) has been smuggled to the villages that are prohibited for security
reasons and to the saboteurs for use during chemical attacks because the
oil protects the body after exposure to chemical material. The oil
has disappeared from the market and the price of a box of oil has
increased from 30 to 120 dinars. Verify the accuracy of the
information and inform us as soon as possible.
[Signature]
Security Brigadier General
Erbil Governorate’s Security Director
1908/9 Jul 1988
[IRDP-NIDS-749405]
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Admission of Chemical Use
This document is very important because it vitiates any claim by the regime that it did not use chemical weapons against its Kurdish population. The date, provenance and the text of the document lend undeniable proof to the regime’s genocidal campaign, known as Anfal, against the Kurds. Undoubtedly, the regime’s use of chemical weapons,
as part of the Anfal campaign, was so widespread that the Iranians had
to supply the Kurds with anti-chemical protectives.
Urgent and Confidential Message
From: Security of Shaqlawa, Branch 3
Number 2034
10 May1987
To: All
We have been informed of the following:
1- The Iranian enemy has supplied the saboteurs‘ families in the
villages and rural areas along the border with pharmaceutical drugs, especially
anti-chemical medicaments; and they [Iranian enemy] are training them to use syringes
for this purpose and to wear protective head masks.
2- There exist approximately 100 saboteurs from various gangs of
saboteurs in Werta region, al-Sadeeq district. They are along Khanqawa route in
order to stopp the force accompanying the Village Deportation Committees, albeit most
of the families in this region have left to Iran.
Please verify information and notify us within 24 hours.
[Signature]
Security Major
Director of Shaqlawa Security
[IRDP-NIDS-812015]
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Chemical Attack
This document is yet another testimony to Iraq’s use of chemical weapons against its Kurdish citizens.
Urgent and Confidential Telegram
Number: 2140
Date: 20 May 1987
To: All
From: Shaqlawa Security 78
General Security 78 informed us the following:
An organizing official of the collaborator Iraq Communist Party in Babel
Governorate said that three political bureau members of the Band of
Iran’s Agents [i.e. the PUK] had been stricken with chemical substances during the
recent attack mounted by our armed forces in the Northern Region. The respected
[Director] General inquired [ordered] about the possibility of knowing their
names. Please exert all efforts and verify the veracity of the information; and
employ all your resources for this purpose in order to notify the respected [Director]
General.
Inform us urgently.
[Signature]
Security Major
Director of Shaqlawa Security
A Comrade
28115
[illegible] in Irbil
Role of the Popular Army

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